Ich ließ meinen Blick über die Menschenmassen gleiten und suchte nach einem Schild, beschriftet mit meinem Namen. Allerdings konnte ich, genau wie bei den letzten zwanzig Malen, nichts finden. Vielleicht hatten sie mich ja vergessen oder ich hatte den falschen Flug genommen.
Bei meinem Glück wäre dies vermutlich der Fall. Bestimmt war ich im falschen Land und meine Gastfamilie wartete vergebens auf mich. Erneut wanderten meine Augen suchend über die Köpfe.
Vielmehr konnte man von den Menschen ohnehin nicht sehen, weil alles ein großes Gewusel war, wie in einem Ameisenhaufen. Was wollten nur all diese Menschen an einem Flughafen? Es war ja nicht so, dass wir in einer Großstadt wären, soviel ich wusste nicht einmal in der Nähe einer größeren Stadt!
So klein konnte der Ort allerdings auch wieder nicht sein, immerhin gab es hier einen Flughaufen und ich konnte mir nicht vorstellen, was das halbe Dorf hier wollte. Vor allem um 7 Uhr morgens Ortszeit, würde ich sicher nicht an einem Flughafen warten.
Selbst ich, und angeblich war ich ja kein Morgenmuffel, konnte um diese Uhrzeit noch nicht vollkommen wach sein. Geschweige denn klar denken, das konnte ich allerdings auch nicht, nachdem ich völlig ausgeschlafen war. Doch diese Menschen wirkten ausgeschlafen und lebhaft, ganz im Gegensatz zu mir.
Ich fühlte mich, wie eine Leiche, sah – wie ich bei einem Toilettenbesuch herausfand – aus wie eine Leiche und dachte ebenso wie eine Leiche. Was in meinem Fall heißen sollte, dass ich gar nichts dachte und mehr meinen Instinkten folgte, als meinem Gehirn.
Nach einigen Stunden Flug berechtigt, wie ich fand. Allerdings hatte das Schicksal sich wohl gegen mich verschworen, denn selbst die Leute aus meinem Flieger schienen putzmunter und überhaupt nicht erschöpft.
Gerade wollte ich meine Suche resigniert aufgeben, da entdeckte ich endlich das kleine Schild, das ich bisher übersehen hatte. Wie hatte ich das nur übersehen können, wo es doch die umwerfende Größe einer Fliege hatte? „Cora Stone“ stand mit krakeliger Schrift auf dem Plakat.
Hoffentlich war das auch wirklich mein Name, denn derjenige, der es geschrieben hatte, besaß eine schreckliche Sauklaue! Wer auch immer es hielt war nicht auszumachen, da er von anderen Leuten verdeckt wurde.
Selbst auf Zehenspitzen ließ sich von dem Schildhalter nur ein bisschen braunes Haar ausmachen. Immer noch stellte sich mir die Frage, was all diese Leute hier machten. Naja, außer mir das Leben schwer. Mühsam setzte ich mich und meinen Koffer in Bewegung, nur um das Schild in dem Gedränge wieder zu verlieren.
Was musste ich auch so klein sein? Eigentlich war ich gar nicht übermäßig klein, aber um mich herum schien jeder größer zu sein. Wo war nur Dessy, wenn man sie brauchte? Ach ja genau, die durfte im Moment eine Abschiedsparty schmeißen, um nächste Woche ebenfalls hier anzukommen.
Sie hätte definitiv den Überblick bewahrt, selbst wenn hier tausende Menschen gewesen wären. Das war eines ihrer besonderen Talente und von denen hatte sie wirklich viele. Auch Unlesbares war für sie kein Problem, da sie selbst die hässlichste Schrift noch lesen konnte.
Dieses Talent hatte sie sicher von ihrer Mutter, die als Lehrerin vermutlich auch darauf angewiesen war. Ich war ja schon immer völlig überfordert, wenn ich nur an das Gekrakelte mancher Menschen dachte. Allerdings schien es mir, als hätten es zurzeit alle auf mich abgesehen, denn in den Schilderungen von unseren Lehrern hatte sich dieses Auslandsjahr sehr viel schöner angehört.
Dabei war ich gerade erst angekommen! Als sie sagten, an einem Auslandsjahr wäre nur Positives, hatten sie definitiv gelogen. Der Schlafmangel kostete mich jetzt schon sämtliche Nerven, von denen ich ohnehin nur wenige hatte.
Im Flugzeug waren mir auch noch zwei ungezogene Bälger zur Last gefallen, und der Lärmpegel in dieser Halle war auch nicht angenehmer. Noch nie war mir ein Flug so lang und schlimm vorgekommen wie heute. Ich war allerdings auch noch nie so lange geflogen, demnach eigentlich nachvollziehbar.
Aber unerträglich war es trotzdem gewesen, regelmäßig in den Rücken getreten zu werden. Ihre lauten Schreie, die mir fast das Trommelfell platzen ließen, machten das auch nicht mehr besser.
Knapp verfehlte ich in dem Gedränge einen Mann, stattdessen rollte ich nur meinen Koffer über seinen Fuß. Er funkelte mich wütend an, doch ich zuckte nur entschuldigend mit den Schultern. Was sollte ich denn auch groß machen, ich konnte den Koffer wohl kaum durch die Luft schweben lassen.
In dem Gewühl hatte ich natürlich auch noch die Orientierung verlieren müssen. Wo hatte nochmal die Person mit dem Schild gestanden? Unsicher schaute ich den Boden an, was mir sicher nicht weiterhelfen würde! Jetzt wäre es zudem wirklich hilfreich, wenn ich auch Unterlagen zu meiner Gastfamilie bekommen hätte, doch die Post hatte sie verloren.
Ich wusste lediglich, dass mein Austauschpartner ein 16-jähriges Mädchen war. Das war es allerdings auch schon. Kein Name, keine Adresse, eigentlich gar nichts. Wieder fuhr ich jemandem über den Fuß. Zum Glück fuhr ich noch kein Auto, sonst hätten wohl einige Leute ihre Gliedmaßen eingebüßt.
„Cora? Bist du das?“ Überrascht schaute ich auf, auf der Suche nach demjenigen, der mich angesprochen hatte. Eine Frau mittleren Alters stand vor mir und lächelte mich fragend an. Ich nickte hastig und streckte ihr ungeschickt eine Hand entgegen: „Ja, die bin ich. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
Immer schön höflich sein und nett lächeln. „Ich bin Zoeys Mutter: Sahra Smith. Aber Sahra reicht.“ Sie schüttelte erfreut meine Hand, bevor sie versuchte, mir meinen Koffer abzunehmen. „Bitte machen Sie sich keine Mühe, ich werde ihn natürlich selber tragen.“ Sahra ließ sich allerdings nicht beirren und schnappte sich meinen Koffer.
„Hier drin ist es so laut, lass uns alles weitere zu deinem Aufenthalt daheim klären.“ Damit setzte sie sich in Bewegung. Sie glitt durch das Gedränge, als wäre es gar nicht vorhanden. Natürlich schaffte sie es auch, ohne jemanden über den Fuß zu fahren oder gar anzurempeln. Woher nahmen Gastmütter nur immer diesen Elan und solche Fähigkeiten?
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Far away
RomanceEin Auslandsjahr ist ja an sich schon total spannend. Neue Leute, neue Schule und neue Cora. Jedenfalls war das Ganze in Coras Vorstellung irgendwie anders. Es war einfacher. Das ist es in der Vorstellung wahrscheinlich immer. Es war leichter, vor a...