𝓮𝓼𝓽𝓪𝓲𝓼 𝓼𝓸𝓵𝓸𝓼

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Ich drehte mich schnell um, doch bevor ich überhaupt realisieren konnte, was hier vor sich ging, spürte ich eine kalte Hand, die sich um meinen Hals legte und mir in die Luft abdrückte.

"Lass sie los, Gandía!", schrie Río und zielte mit seiner Pistole auf den Mann, aber da dieser mich als Schutzschild benutzte, war es für Río unmöglich auf ihn zu schießen, ohne mich zu treffen.

Gandía zog mich mit ihm die Treppe hinauf.

"Río! Schieß! Ignorier mich, aber bitte schieß!", japste ich, doch Gandía drückte mir daraufhin noch mehr die Luft ab, sodass mir fast schwarz vor den Augen wurde.

Aber Río schoss natürlich nicht.

Stattdessen kniete er fast am Boden und versuchte, seine Hand still zuhalten, aber er zitterte zu sehr und ließ die Waffe fallen.

Gandía lachte nur spöttisch auf, bevor er mir etwas ins Ohr flüsterte:

"Ich mach dich fertig, Latina."

Dann ließ er mich los und lief schnell die Treppe herauf und verschwand, während ich, nach Luft schnappend, auf den Boden fiel.

Die Stelle, an der Gandía zugedrückt hatte, schmerzte höllisch, doch so schnell es nur wieder ging, zwang ich mich, mich aufzurichten.

Río kniete am Boden vor der Treppe, weinend, und hielt sich die Ohren zu.

Bevor die Geiseln noch auf dumme Ideen kommen konnten, lief ich schnell zu meinem Komplizen und nahm seine Waffen an sich und schoss einmal in die Luft, als Warnschuss und damit einer der anderen zu uns kommen konnte.

"Alle ruhig bleiben!", keuchte ich und versuchte, möglichst autoritär zu klingen, was anscheinend auch klappte, denn keine der Geiseln regte sich.

"Río! Aires! Alles in Ordnung?", rief Helsinki uns zu, als er die Treppe herunter lief und zu uns kam.

"Gandía. Er ist frei!", antwortete ich, während ich Río beruhigend über den Rücken streichelte.

Palermo hätte ihn nicht im Wachdienst einteilen sollen, denn eigentlich hätte klar sein müssen, dass er durch die Folter ein Trauma hatte, doch nach meiner Verletzung hatten wir einfach noch jemand gebraucht.

"Verdammt!", fluchte Helsinki und holte aus der Tasche seines Overalls ein Walkie-Talkie. "Gandía ist frei!"

Ich hörte nicht, was Palermo und Denver antworteten, aber wenig später standen wir alle in der Eingangshalle.

"Wo ist er hin?", fragte Palermo.

"Die Treppe hoch, nach links", antwortete ich kalt und vermied es, ihm in die Augen zu schauen.

"Die Frage ist nur: Wie konnte er entkommen?", wollte Denver wissen und wandte sich jetzt direkt an Río. "Du hast ihm doch die Handschellen richtig angelegt, nachdem er im Bad war?"

"Natürlich", entgegnete dieser.

"Natürlich, natürlich. Hört ihr das? Natürlich hat er das. Verdammt, Río! Was soll das? Seit du hier bist geht hier alles-"

"Das reicht, Denver", unterbrach Palermo ihn. "Das Gebäude ist zu groß. Wir müssen die Geiseln in die Bibliothek bringen und uns dann aufteilen."

"Ich gehe wieder runter zu Bogotá", erklärte Nairobi, mit der ich auch noch nicht gesprochen hatte. "Wir errichten eine Barrikade."

Sofort verschwand sie in Richtung Aufzug.

"Stockholm, Denver, ihr kümmert euch um die Geiseln."

Die beiden nickten und fingen dann an, die Geiseln aufzuscheuchen.

"Er wird nicht an die Tür gehen", prophezeite Palermo. "Er ist ein Profikiller, der nur seit dem Krieg darauf wartet, dass er wieder den Held spielen darf. Er wird uns alle abschlachten."

"Río und ich gehen in den zweiten Stock, übernehmt ihr den ersten", meinte Helsinki und zog Río, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte und als einziger von unserer Trennung wusste, mit sich. Der junge Mann wollte wohl etwas dagegen einwenden, aber es war zu spät, denn der Serbe hatte schon wieder die Treppe erreicht.

Also blieb mir nichts anderes übrig, als zusammen mit dem Mann, der sich mit mir vor 24 Stunden noch voller Hoffnung auf die Zeit nach dem Raub gefreut und sich dann aus Angst vor einem erneuten Verlust getrennt hatte, die Bank nach einem durchgeknallten Killer abzusuchen, der, wenn wir ihn nicht aufhielten, uns alle wie Lämmer abschlachten würde.

Ohne ein Wort zu sagen lief ich in den ersten Stock, gefolgt von Palermo, der mir Deckung gab.

Die Bibliothek war frei, sodass Denver und die Geiseln ungestört hineingehen konnten, ebenso wie die beiden Büros, die noch auf der Etage lagen.

Als wir alles kontrolliert hatten, blieb ich kurz stehen.

"Palermo...", flüsterte ich und stellte mich vor ihn.

"Was, Aires?", fragte er und drängte sich an mir vorbei zur Tür, aber ich hielt ihn fest.

Doch womit ich gar nicht gerechnet hatte war, dass er mir seine Pistole unters Kinn hielt, aber ich blieb immer noch ruhig, denn ich wusste, dass er nicht abdrücken würde.

"Martín, bitte...", flüsterte ich.

"Deine kleine Racheaktion mit Río wirkt bei mir nicht", meinte er kalt.

Verdammt, war es so offensichtlich gewesen?

Ich ignorierte die Pistole an meinem Kopf und kam Schritt für Schritt auf ihn zu, selbst als er die Waffe geladen hatte.

Langsam legte ich meine Hand auf seine, die die Waffe festhielt, und drückte sie nach unten, bis Palermo sie fallen ließ.

Dann umarmte ich ihn, und als ich spürte wie er seine Hände um meine Taille legte, schloss ich beruhigt meine Augen und atmete tief durch.

"Es tut mir so leid, Alba", flüsterte er mir ins Ohr und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
"Du hattest recht. Wir schaffen das zusammen. Nur zusammen."

Er löste sich aus der Umarmung, um etwas aus der Jackentasche seines roten Overalls zu holen.

Den Ring.

"Ich habe auch nachgedacht. Entweder wir kommen hier beide raus, oder keiner von uns."

Er steckte ihn mir an den Finger.

"Wir kommen hier schon raus, hm?", meinte ich aufmunternd und versuchte, ihm ein Lächeln zu schenken.

"Wir werden unsere eigene Familie haben", flüsterte er ganz plötzlich. Ich hatte ihn nur selten so emotional gesehen, aber dieses Mal nicht vor Wut oder Trauer, sondern vor Glück und Hoffnung.

"Ja", antwortete ich. "Eine eigene Familie. Nichts kann uns dann mehr im Weg stehen, wenn wir huer draußen sind."

Er fing an zu weinen, umarmte mich wieder und hielt mich dieses mal so fest, dass ich fürchtete, keine Luft mehr zu bekommen.

"Palermo? Palermo hörst du mich?", fragte plötzlich der Professor über das Funkgerät.

"Ja, ich höre", antwortete mein Verlobter, nachdem er sich schnell wieder beruhigt hatte.

"Gandía hat die Kameras getrennt, ihr seid alleine. Ich kann euch nicht mehr helfen."

𝘽𝙪𝙚𝙣𝙤𝙨 𝘼𝙞𝙧𝙚𝙨Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt