Wenn es einen Moment aus meiner Kindheit gibt, an den ich mich besonders gut erinnern kann, dann ist das der Tag, an dem meine ältere Schwester starb.
Es war Frühsommer gewesen und Andrés und Isabella hatten mich für einige Stunden alleine gewesen.
Damals war es für mein sechsjähriges Ich das Größte gewesen, wenn ich bis spät in die Nacht Fernsehen schauen durfte, aber hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass es das letzte Mal ein würde, dass ich meine Schwester sehen würde, hätte ich mich sicherlich an sie geklammert und geschrien, sie solle nicht gehen. Ich hatte nie wirklich die Gelegenheit gehabt, mich von ihr zu verabschieden.Es war spät gewesen, als Andrés panisch in die kleine Wohnung gestürmt kam.
"Alba! Alba, Gott sei Dank!", rief er panisch.
"Wo ist Isa?", wollte ich wissen.
Andrés packte schnell einige Sachen in die Reisetasche, bevor er sich vor mich hin kniete, um mir direkt in die Augen schauen zu können. Er nahm meine Hände in seine, doch als wir beide bemerkten, dass sie blutverschmiert waren, zog ich sie schnell zurück. Sofort hatte ich realisiert, was passiert war: Isabella war tot.
Wie ich später erfahren hatte, war sie von einem Polizisten erschossen worden, als sie zusammen mit Andrés den teuersten Juwelier in ganz Madrid überfallen hatte."Hör mir zu, ja?", flüsterte Andrés, während ihm ebenfalls die Tränen über die Wangen liefen. "Wir müssen jetzt für eine Zeit lang in den Urlaub fahren, in Ordnung? Deine Schwester will das so. Was hältst du von Brasilien? Oder Mexiko? Auf jeden Fall irgendwohin, wo es das ganze Jahr über warm ist, hm?"
Er nahm ich auf den Arm und stand dann auf, um so schnell wie nur möglich das Haus zu verlassen und irgendwie nach Portugal zu fahren, um von dort aus nach Südamerika zu kommen.
Ich hatte mich verzweifelt an seinen Hals geklammert, und immer wieder das gleiche gemurmelt, wie er mir später einmal erzählt hatte:
Bitte verlass mich nicht, bitte verlass mich nicht...
🧡
Schreiend und schweißgebadet wachte ich auf.
Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an das spärliche Morgenlicht in meinem Zimmer zu gewöhnen.
Offensichtlich war es schon recht spät, denn die Sonne fiel bereits durch die Spalten der geschlossenen Fensterläden ins Gebäude.
Ich richtete mich auf und schaute auf den Wecker auf dem Nachtisch neben mir.
09:46 Uhr morgens.
Verdammt, die anderen waren sicher schon beim Frühstück. Ich zog mich an und lief dann hinauf auf den Gang.
Die anderen mussten wirklich denken, dass ich Dornröschen sein musste.Ich sah gerade noch, wie Tokio und Stockholm in ihre Zimmer verschwanden.
Verwundert lief ich in den Innenhof des Klosters, wo wir für gewöhnlich frühstückten. Und sofort wusste ich, dass hier irgendwas faul war.
Bogotá, Marseille, Helsinki und Denver, der Cincinnati auf dem Arm trug, tanzten wie verrückt im Innenhof herum, während Palermo dem Professor kurz durch die Haare wuschelte, bevor er dann sich auch zu ihnen gesellte.
"Was. Zur. Hölle", stellte ich verstört fest, als ich mich zu Sergio setzte.
"Aires!", sagte Palermo freudig und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Ich ignorierte ihn.
"Ist da Alkohol drin?", fragte ich Sergio und zeigte auf den Orangensaft auf dem Tisch.
Er zuckte mit den Schultern und wandte sich dann wieder ungestört seinen Notizen zu.
Ich schenkte mir ein Glas voll ein, dann nahm ich mir ein Croissant und begann zu essen, doch schon nach wenigen Sekunden wurde ich unterbrochen.
"Was glaubst du, wird Aires davon halten?", wollte Denver von Palermo wissen.
"Von was?", fragte ich, denn ich hasse es, wenn man über mich spricht, als wäre ich ein kleines Kind.
"Na von Boom Boom Ciao!", sagte Denver und lachte dieses Mal besonders dumm, sodass sich Cincinnati seine kleinen Ohren zuhielt.
Ich probierte einen Schluck Orangensaft. Kein Alkohol.
"Was ist das?", fragte ich.
"Nicht schon wieder", kommentierte der Professor.
"Nein wartet - Ich will es am besten gar nicht wissen", unterbrach ich Palermo, bevor dieser überhaupt etwas sagen konnte, und stand auf. Ich hatte keine Lust auf irgendwelche Scheiße, zumindest nicht nachdem ich heute Nacht so schlecht geschlafen hatte.
Ich lief wieder die Treppe hinauf und in den großen Klostergarten, direkt neben der Hauptkirche, aus der die morgendlichen Gesänge der Mönche zu hören waren.
Ich setzte mich unter die alte Eiche und schloss meine Augen.
Seit Jahren hatte ich immer wieder mit den Albträumen zu kämpfen, aber seitdem ich wieder im Kloster war, hatten sie sich verschlimmert.
"Alles in Ordnung?"
Beinahe hätte ich einen Herzstillstand bekommen, so sehr hatte Palermo mich erschrocken.
"Was?", zischte ich. Die letzten Tage über hatten wir uns fast die ganze Zeit über gestritten, wegen jeder Kleinigkeit, und die letzte Person, die ich gerade sehen wollte war er. War das eine Art Friedensangebot?
Schnell versuchte ich netter zu antworten.
"Äh ja. Ich habe nur schlecht geschlafen.""Unser Dornröschen hat schlecht geschlafen", stellte er fest und lachte, doch als er meinen genervten Blick bemerkte, hörte er lieber schnell auf.
"Warum bist du hier?", wollte ich unbeeindruckt wissen.
"Ich dachte, ich hätte dich gerade vertrieben-"
"Hast du nicht", meinte ich knapp und stand auf.
Ich vertraute niemandem hier so wirklich.
Manchmal schien sogar Sergio zu vergessen, dass alle hier Schwerverbrecher waren, und vor allem Tokio traute ich zu, dass sie uns alle verraten konnte.
Nicht einmal Sergio wollte ich noch vertrauen, nachdem er mich so im Stich gelassen hatte, aber trotzdem war ich hier, aber nicht für ihn, sondern für Andrés, um mich endlich rächen zu können, für das, was die Polizei mir angetan hatte: Den Tod meiner Schwester und den von Andrés.Ich machte mich gerade wieder auf den Weg ins Haus, also Palermo mir hinterher gelaufen kam und mich am Handgelenk festhielt.
"Palermo, was soll das-"
Ich wurde still, als er mir in meine freie Hand eine Blume legte. Eine Rose.
"Beruhig dich, Dornröschen", sagte er, bevor er mich zurückließ.
"Was für ein Idiot", flüsterte ich lächelnd, als auch ich ins Kloster lief, um Wasser für die Blume zu besorgen.