Kapitel 1

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Zeit spielte für Marcus und mich keine Rolle. Wir vertrieben sie uns. Flogen durch sie und durchs All, besuchten das ein oder andere Naturwunder ferner Planeten. Wir probierten Dinge, die noch nie ein Mensch zuvor gegessen hatte. Grün, schleimig, lecker, abartig, fad oder ansehnlich und übelriechend. Kurz: Wir hatten eine gute Zeit. Doch ich sehnte mich nach der Erde, nach Menschen wie du und ich, nach Normalität... Nach Dingen, die ich früher geliebt hatte. So fanden wir uns in der brütenden Hitze eines August-Samstags auf einem Mittelalter-Markt im Rheinland wieder.

Authentisch kostümiert lagen wir im Stroh, um uns herum die tobenden Kinder, und blickten in den strahlend blauen Himmel. Marcus kaute auf dem Holzspieß herum, an dem sich gerade noch frittierte Kartoffelscheiben befunden hatten, während ich mich dezent an ihn schmiegte. Es lag etwas in der Luft, dass nur für uns greifbar war. Wir waren beide Träumer und gerade auf einer fantastischen Reise, die unsere Gefühle mehr als zärtlich miteinander verband. Ich spürte es kribbeln, wenn er meine Hand nahm und hatte ständig das Bedürfnis - wie jetzt auch – mich an ihn zu drücken und seinen Geruch einzuatmen und das, obwohl es so heiß war.

Unsere Blicke kreuzten sich häufiger als nötig, ich errötete andauernd und, wenn es um Coolness und Selbstbeherrschung ging - wenn es ihn betraf -, konnte ich nichts mehr davon aufbieten. Ich war drauf und dran mich allerheftigst in ihn zu verknallen. Wenn es dafür nicht schon zu spät war. Der Hitze Tribut zollend ging es an einen Getränkestand und einen halben Liter Apfelsaftschorle später betrachteten wir die Stelzenläufer und Artisten, an denen wir auf unserem Rundgang zwischen Verkaufszelten und Fressbuden so vorbeikamen. Es dämmerte und, auch wenn man dachte, das mit der verschwindenden Sonne, die Temperatur etwas fallen würde, sie tat es kaum.

In der Nähe einer der kleineren Bühnen, an der es trotzdem brechend voll war, genossen wir Kirschmet aus unseren Hörnern, während wir auf der Bank einer Bierzeltgarnitur saßen und unsere Füße im Takt der Musik wippten, die von der kleinen Bühne zu uns herüberschallte. Trommel, Geige, Flöte und Harfe ergaben eine ziemlich gute eingängige Mischung, die von der samtigen Stimme des schlaksigen Sängers abgerundet wurde. Hypnotisch flackerte vor uns ein kleines Teelicht. „Marcus? Gefällt es dir hier?", fragte ich um ein wenig Kommunikation zum Laufen zu bringen.

„Mhmh. Mir gefällt einiges hier. Lass uns noch ein Stück gehen", schlug er vor und wir erhoben uns von der Bank. Ein paar Minuten später, unter den Zweigen eines Baumes, die sich in der nächtlichen Brise wogen, hielt er an und griff nach meiner Hand. Leise wehten die märchenhaften Zeilen von „Rosenrot" der Band Faun zu uns hinüber, als er mich an sich zog. Mich, die dicke Lady im weißen, einfachen Leinenkleid, an sich, den verwegenen in schwarze Leinenhose und -hemd gekleideten Mister Superhot, der neuerdings auch noch einen ihn noch verwegener erscheinen lassenden Drei-Tage-Bart trug.

„Doctoress?", schluckte er trocken, seine Augenbrauen leicht gerunzelt, mit diesem Hundeblick aus seinen nachtdunklen blauen Augen. „Hm?" „Du spürst es auch oder? Es ist vielleicht die Nacht der Nächte. Die Nacht, in der wir uns das erste mal wirklich sehen - das erste Mal als Mann und Frau. Vielleicht auch das erste Mal als Liebespaar." Sanft strich er eine wellige Strähne meines Haares aus meinem Gesicht und alles an mir begann zu Glühen. „Ich.. bitte dich. Lass raus, was in deinem Herzen ist, nur für heute Nacht. Lass es frei und lass zu, was dann geschieht. Damit ich davon zehren kann."

Seinen Worten lauschend, die mich zugegeben elektrifizierten, begann mein Kopf wieder zu arbeiten. „Stell ihn ab, nur für heute Nacht", bat Marcus mich. „Vielleicht kann ich dir helfen." Sanft zog er mich noch näher an sich, so dass ich ihn spüren konnte, und küsste mich.

„Das hättest du nicht tun dürfen, Marcus", begann schmerzhaft jede Gegenwehr in mir zu ersterben. Was ich schon lang in meinem Herzen trug, brach mit einer Macht heraus, die mich vor mir selbst erschrecken ließ. Ich wusste, dass es diesmal kein zurück geben würde. Atemlos blickte ich ihn an und das einzige was ich sah, waren seine Augen, in denen so viel Wissen, Erfahrung und Liebe steckte.

Das einzige, was ich fühlte, war sein fester Körper an meinem Weichen. Das einzige, was ich roch, war nicht der Schweinebraten von der nächsten Bude, obwohl der auch ein wenig. Nein, es war Marcus ureigener Geruch, ein Mix ausleicht verschwitzer Sommerhaut und einem Hauch von Edelhölzern, Moschus und Ambra. Markant, typisch Marcus. Das einzige, was ich hörte, war seine sehnsüchtige Stimme an meinem Ohr, die „Öffne dich", flüsterte und sich mit den Rhythmen von „Hagazussa"mischte. Es fand sich, was zusammen gehörte.

„Marcus?", sah ich ihm fest in die Augen. „Ich... ich...", es kam mir so schwer über die Lippen. „Ich liebe dich." Ich senkte den Blick, als ob ich etwas getan hatte, wofür man sich schämen musste. 

Er lächelte liebevoll und lenkte mit seiner Hand meinen Blick in seine Augen. „Ich weiß, das tust du schon ganz lange. Deine Augen haben dich verraten, immer wenn ich hinein blickte und wenn du wie eine keusche Jungfer den Blick abwandtest. Ich bin schon viele Jahrhunderte unterwegs hier und überall, doch habe ich noch nie eine so an meiner Seite gewollt wie dich. Wenn ich die Ewigkeit ertragen muss, dann nur mit dir."

Ich ärgerte mich jetzt auch noch über mich selbst, dass in dieser romantischen Situation meine emotionale Seite zum Vorschein kam und ein einzelnes Tränchen aus meinem Auge presste. „Das macht gar nichts. Es zeigt mir nur, wie echt und tief deine Gefühle sind", strich er mir die Träne von der Wange. Dann schlang er seine Arme um meine Taille und ich meine um seinen Hals. Dieser Kuss war nicht wie die vereinzelten, die wir schon im "Vorbeigehen" getauscht hatten. Er war der erste in der Nacht der Nächte, in der wir uns das erste mal als Mann und Frau sahen ... und als Liebespaar.

Hingebungsvoll trafen unsere Lippen aufeinander und begegneten sich unsere Zungen, verschmolzen unsere Körper im Dunkel der Nacht mit einem Baumstamm an den ich Marcus presste, ergab sich die Zeit unserem Sehnen danach, dass dieser Augenblick nicht enden möge, und blieb für uns stehen, sangen Grillen uns ein Liebeslied, während die Sterne für uns strahlten.

 „Lass uns dahin gehen, wo es einsamer ist", nuschelte er in mein Haar. Die Masse des Publikums stand an den großen Bühnen und jubelte den Musikern zu. Wir verzogen uns in Richtung des Zeltlagers, wo nur vereinzelt eine Person im Feuer stocherte und auf Hab und Gut achtgab. Auch hier gab es einen Strohhaufen, den wir ganz für uns alleine hatten. Ich lag in seinem Arm, ließ meine Finger über die Öffnung seines Hemdes gleiten, wo sie den Anhänger ertasteten, auf dem die Rune prangte, die mit meinem wirklichen Vornamen zu tun hatte. Nur er und meine beiden Freundinnen wussten ihn und niemand sonst, der mich als Doctoress kannte.

„Das fühlt sich gut an, was du da machst. Kann ich das bitte für jeden Morgen bestellen, an dem wir nebeneinander aufwachen?", verfingen sich seine Finger in meinen langen Haaren.

„Geben und nehmen, das weißt du oder?", flüsterte ich in sein Ohr. „Was bekomme ich im Gegenzug?"

Sein rauhes Lachen hatte einen schmutzigen Unterton. „Wie wäre es damit?", zog er mich mit einer Leichtigkeit auf sich, dich mich beinahe vergessen ließ, was für ein Brocken ich war. Sein Kuss berauschte mich und ließ mich nach einem weiteren verlangen und noch einem und noch einem...

Marcus hielt inne. "Heira..."

„Mhmh", räusperte sich just in diesem Moment ein spindeldürres Männlein von nicht mehr als 1,60 m Körperhöhe. Der Mann mutete schottisch an, trug er doch einen karierten Rock und ein Barrett. An seinem linken Arm war ein Nadelkissen befestigt und aus dem Sporran lugte eine Schere sowie Garnfäden. „Entschuldigt bitte, ich störe ungern wenn es gerade zur Sache gehen soll. Mein Name ist Andrew Snyderlein", schüttelte er sich Stroh vom Körper. Wo war der hergekommen? Direkt aus unserem Haufen? Direkt aus unserem Haufen! War er da schon die ganze Zeit drin gewesen? Hatte er uns belauscht? Oder schlimmer noch beim Knutschen zugeschaut?

The Doctoress - Märchen-Haft (10)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt