Ähnlich wie am ersten Tag meines Aschenputtel-Daseins, verlief auch der zweite. Das einzige, was sich geändert hatte, war meine Stimmung. Ich freute mich nur kurz darüber ihn wiederzusehen. Dann übernahm der bevorstehende Trennungsschmerz. Marcus schien es ähnlich zugehen. Wir tanzten den ganzen Abend und sprachen fast kein Wort.
„Hey, wir müssen daran denken, dass es nicht mehr lange ist. Nur noch einmal schlafen, dann ist morgen. Und mit dem morgigen Kuss – den ich sehnlichst erwarte – ist das Märchenland gerettet und wir können nach Hause und...", er schluckte trocken „alles tun, was wir wollen."
„Ach, Marcus", sank ich schwer seufzend an seine Brust, doch er schob mich weg.
„Bitte, tu das nicht... Ich...ich... Es ist gerade schwer genug." Seine Augen nahmen wieder diesen seltsamen, irren Blick an. Ich hatte eigentlich gehofft, dass sei vorbei, weil es schon lange nicht mehr aufgetreten war. „Geh, sieh zu, das du von mir weg kommst". Ich sah, wie er mit sich kämpfte.
„Ich will nicht gehen", antwortete ich verzweifelt. „Wir kennen das schon. Es ist gleich vorbei." Als ich ihn betrachtete, änderte sich meine Meinung.
„Geh, ich bitte dich. Tu es einfach." Hatte er das geknurrt? Er hatte. Seine Augen blitzten gefährlich.
„Also gut. Ich gehe, aber nur dir zu liebe", verließ ich eiligen Schrittes den Ballsaal und um am Rande mitzubekommen, dass er mir nachsetzen wollte, wie ein Wolf seiner Beute. Allerdings stellte sich Barbara ihm in den Weg.
Als ich auf dem Rückweg war, stritt sich in meinem Kopf alles, was sich streiten konnte. Die Liebe, die bleiben wollte. Die Intelligenz, die wissen wollte, was los war. Die Vernunft, die sagte, es sei das einzig richtige gewesen zu gehen. Die Wut, dass ich mich irgendwie ohnmächtig fühlte. Die Angst, was mit ihm war. Auf den letzten Metern entkleidete ich mich bis auf das Unterkleid im Gehen und ließ alles liegen. Ich war so durcheinander wie nie in meinem Leben. Marcus war mir wieder hinterher gekommen. Flugs kletterte ich auf den Birnenbaum. Dankenswerterweise hatte man mir eine Strickleiter bereitgestellt, auf der ich auch wieder hinunter kam. Als Marcus im Baum nachsah, war ich schon wieder verschwunden und lag mit Asche beschmutzt weinend vor dem Ofen.
Als der Morgen graute, hatte ich keine Motivation dieses Märchen zu Ende zu spielen. Ich wollte meinen Marcus und wieder nach Hause. Aber mein Herz sagte mir, dass dieser Wunsch egoistisch sei und ich an die Rettung des Märchenlandes denken sollte. Was wäre die Welt ohne Märchen? Nicht diesselbe.
Ich fachte ein Feuer im Kamin an, servierte den Damen ihr Frühstück und ging dann zum nahen Weiher um ein Bad zu nehmen, das ich dringend benötigte um einen klaren Kopf zu bekommen. Das kalte Wasser klärte meine Gedanken und ich kam etwas zur Ruhe. Unter einer Trauerweide am Uferrand sitzend, trocknete ich ab und dachte über meine Gefühle nach. Eines ließ sich nicht bestreiten und nicht mehr in die hintersten Ecken meines Herzens verbannen: Ich liebte Marcus mit jeder Faser meines Körper, jeder Zelle meines Hirns und jedem Schlag meiner Herzen. Unabänderlich. Ewiglich.
Nachdem ich meine Ruhezeit hinter mich gebracht hatte, machte ich mich wieder auf den Weg zum Gut um den Tauben das Fenster zu öffnen und mit ihnen Erbsen und Linsen zu sortieren. Derweil erzählte Herrmann, das Plappermaul, den neuesten Klatsch und Tratsch.
„Dein Prinz soll gestern im Schloß noch richtig ausgetickt sein, bevor er sich auf den Weg zu dir machte, hab ich gehört." Herrmann pickte auf dem Boden herum.
„Er war schon ein wenig seltsam drauf. Das weiß ich."
„Ha, Boris hat durchs Fenster gespäht. Sie mussten ihn festhalten und Barbara hat ihn gebannt, damit er dir nicht nachsteigt. Er soll sogar Geifer im Maul gehabt haben, nicht wahr Boris?", fragte Herrmann nach.
Boris war sehr schweigsam und nickte nur, was vielleicht bei einer Taube nicht so viel heißt.
„Erst als er sich wieder halbwegs ein hatte, hat Barbara den Bann gelöst und er konnte dir hinterher."
„Da steckt ein ernsthaftes Problem dahinter", mutmaßte ich.
„Ach was, ihr braucht nur ungestörte Zweisamkeit in einem kuscheligen Nest zum V....", plapperte Herrmann.
Ich unterbrach ihn. „Bitte?! Das muss ich mir von einer Taube nicht sagen lassen." Ruckartig stand ich auf. Die Sortierarbeit war erledigt. „Vielen Dank für eure Hilfe", bedankte ich mich bei den Tauben und ging hinunter zum Bäumchen um meinen Spruch loszulassen.
Das Kleid, dass diesmal angeschwebt kam, per Taubenpost, war cremeweiß,harmonierte mit meiner Haut- und Haarfarbe, die immer noch einen Kupferton aufwies, und ließ mich diverse Kilos leichter und jünger aussehen. Dezent ausgestellte Trompetenärmel aus transparentem Chiffon, ein großer V-Ausschnitt vorne und hinten, in Spitze eingefasst lief das Kleid weich fließend aus. Ein Traum in weiß, ein Hochzeitskleid. Selbiges in der Hand, verkrümelte ich mich in ein Zimmer des Hauses. Seufzend zog ich mich um, als Barbara erschien und mir mit den Haaren nach half.
„Ich muss ja sagen: Ich würd "ja" sagen, selbst wenn du ein Moppel bist, siehst du wunderschön aus", meinte sie anerkennend. „Ihr könntet hier im Märchenland auch richtig heiraten als Doctoress und Marcus, wenn ihr das wolltet. Ich denke die Regierung würde euch als Dank eine schöne Hochzeitsfeier schmeissen und euch eines der Schlösser für ein wenig Honeymoon zur Verfügung stellen."
„Danke, dass ist sehr nett. Aber Marcus und ich haben über so etwas noch gar nicht gesprochen. Wir stehen noch ganz am Anfang, bin ich mir meiner Gefühle doch jetzt erst richtig klar. Und wer weiß, ob wir als Paar funktionieren?", zuckte ich mit den Schultern.
„Das weiß niemand. Aber ich weiß, dass ihr das richtige Gefühl füreinander in euren Herzen tragt und dieses Gefühl rettet unser aller Leben hier. Es wird auch euers retten, wenn ihr euch darauf einlasst." Sie blickte mich liebevoll an. „Er ist der Richtige für dich und du bist die Richtige für ihn. Meinen Segen habt ihr", lächelte sie mir zu und wir mussten beide kichern. „Auf ins Schloss mir dir!", schubste sie mich in die richtige Richtung. „Und nimm das Pferd!"
Als ich das Gutshaus verließ, stand ein gesatteltes Pferd vor der Tür, von dem ich nicht wusste, wie ich im Kleid dort hinauf kommen sollte. Ein Tritt war nicht in Sichtweite. Der Knecht, der es hielt gab ein Kommando und das Tier ging in die Knie, was das Aufsteigen erleichterte.
„Reiten kannst du?", fragte er skeptisch.
„Japp. Das kann ich", dachte ich an mein Abenteuer mit den außerirdischen Rosen und trieb das Pferd an.
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The Doctoress - Märchen-Haft (10)
FanfictionUrheberrechtlich geschützt! Copyright by rivka76 Die Doctoress und Marcus in ihrem märchen-haftesten Abenteuer. Diesmal bekommen sie es mit dem größten Gefühl von allen zu tun: der Liebe. Oder auch nicht, denn sie ist dem Märchenland abhanden gekomm...