Kapitel 5

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Ich fühlte mich wie auf kaltem Entzug. Sofort nachdem das weiße Licht in einem Teil des Märchenlandes verteilt worden war, hatte man uns wieder getrennt. Tief drinnen hatte ich sie gespürt, diese reine, unschuldige, wahre Liebe, die uns beide offensichtlich ausmachte. Eine Liebe, die nicht gierig verschlang, sondern ergänzte, förderte, aufbaute, eine Liebe, die warme Wellen in meinem Körper verteilte – Wellen des Glücks. Nichts anderes wollte ich für ihn.

Würde er mich fragen, was ich von ihm wollte, würde ich antworten: „Das ist eine Frage, die ich mir nicht stelle. Die Frage muss lauten: Was will ich FÜR dich? Und die Antwort auf diese Frage lautet: Ich will, dass du glücklich bist. Worin auch immer dein Glück liegt – und sei es in meinem Schmerz, dann will ich es für dich fördern, erhalten und erdulden." Bei diesen Gedanken musste ich doch etwas schniefen. Aber so war es. Ich war mir meiner Gefühle noch nie so klar, wie in diesem Moment. Marcus war das einzig Richtige in meinem Leben, der einzig Richtige.

„Doctoress? Alles in Ordnung?", sah Snyderlein zu mir auf. Da er recht zentral im Märchenland wohnte, war ich wieder bei ihm eingezogen. Gerade war er in einer Telefonkonferenz mit führenden Köpfen des Märchenlandes. Es ging darum, in welches Märchen ich einziehen sollte, damit die wahre Liebe flächendeckend verteilt werden konnte.

„Ja,danke. Alles in Ordnung. Habe nur etwas Sehnsucht." Ich zeichnete mit dem Finger ein „M" an die Fensterscheibe, an der ich gerade saß.

Snyderlein nickte und nahm meinen Gemütszustand wohlwollend zur Kenntnis. „Hier tut sich gerade was", informierte er die Damen und Herren auf der anderen Seite. „Die Doctoress hat Sehnsucht – das bedeutet, dass die Kraft der wahren Liebe noch etwas wachsen wird, wenn die beiden erneut aufeinander treffen. Wir sollten das einkalkulieren und sie noch etwas länger aufeinander warten lassen. Wie sieht es bei Herrn Schenkelberg aus?"

Leider verstand ich nicht, was auf der anderen Seite gesagt wurde. An Snyderleins Miene erkannte ich aber, dass es etwas Gutes war. Er lächelte zufrieden. „Aschenputtel oder Schneewittchen? Rotkäppchen?! Nein, da gibt es doch keine wahre Liebe! Was? Ihr meint, weil Rotkäppchen ein Verhältnis mit dem Jäger hat? Auf keinen Fall! Schneeweißchen oder Rosenrot? Denkbar....", war er am diskutieren. Eine geschlagene Stunde später stand das Ergebnis fest.

„Also. Das Märchen von Aschenputtel kommt eurer Geschichte so ziemlich am nächsten. Es wird das letzte sein, das du durchspielen musst, und es wird in die Hauptstadt verlegt. Rapunzel endete im Süden in der Wüste. Wir werden drei weitere „Explosionen" im Norden, Osten und Westen setzen und die letzte dann zentral in der Mitte. Eines der großen Märchen, die im Norden unseres Landes liegen, ist Schneeweißchen und Rosenrot. Dorthin wirst du als nächstes gehen. Danach folgt der Westen mit Schneewittchen und der Osten mit König Drosselbart." Snyderlein warf mir ein dickes Buch zu, das er aus dem Regal gefischt hatte. „Lies dich schon einmal in deine Rolle ein. Du wirst den Part von Schneeweißchen übernehmen. Rosenrot ist ein sehr nettes Mädchen. Du wirst gut mit ihr zurecht kommen. Ich gehe jetzt ins Bett. Alles weitere Morgen", verabschiedete er sich mit einem kurzen Nicken und verkroch sich in seinem Gemach.

Das dicke Buch auf dem Schoß begann ich zu lesen und ehe ich mich versah, steckte ich mitten im Märchen.

„Hihihi. Du bist ja niedlich!", sprang der rothaarige Dervish von Rosenrot um mich herum und verbreitete eine extrem charmante Stimmung.

„Ja, danke. Das kann ich wohl auch von dir behaupten", hatte ich das Bedürfnis sie in die Arme zu schließen und mich nicht wieder lösen zu wollen.

„Ok, du bist schon ein wenig größer und breiter als meine Schwester, aber zum Bären passt das schon. Komm, lass uns einen Spaziergang machen", warf sie mir einen dicken weißen Mantel zu, der mit dunkelblauen Stickereien in Form von Rosen verziert war. Sich selbst in einen roten Mantel kleidend stapften wir mit dicken Stiefeln an den Füßen nach draußen in die Eiseskälte von Schnee. Rosenrot erzählte mir viele lustige Begebenheiten a la „Pleiten, Pech und Pannen im Märchen." Der Bär hatte mal seinen Text vergessen, der Zwerg einen Lachflash, als ihm die Geschwister den Bart absäbelten und einmal, als der Bär aus seinem Kleid stieg, hatte er nichts drunter, was die beiden Mädchen vor Scham erröten ließ. So verging die Zeit recht schnell und als die Dämmerung Einzug hielt, waren wir wieder im Warmen.

„Jetzt müsste doch bald mal der Bär klopfen oder?", mutmaßte ich, den Text des Märchenbuches vor Augen.

Rosenrot sah auf die Uhr. „Ja, du hast recht. So gegen halb acht kommt er meistens." Und schon wummerte es an der Tür und als Rosenrot öffnete und erschrocken einen halben Meter zurücksprang, erschrak auch ich. Dieser Bär, war ein richtiger Bär. Kein Marcus in Verkleidung. Wie auch immer sie das angestellt hatten. Die Stimme des Bären war seine und sein Blick galt nur flüchtig Rosenrot und unserer Mutter, die sich still im Hintergrund hielt, und dann ganz lange mir.

„Ihr Kinder, klopft mir den Schnee aus dem Pelz." Das Ungetüm, in dem mein Marcus steckte, legte sich vor dem Kamin ab und wir begannen unser Werk, rückten ihm mit Bürsten und Besen zu Leibe, bis er sich brummend vor Wohlgefühl auf dem Rücken wälzte. Während Rosenrot vor Hitze beinahe umkam und sich mit roten Wangen ins Bett verabschiedete, zog ich die Arme fest um mich und fror wie ein Schneider.

„Schneeweißchen, komm her zu mir. Ich wärme dich", lud mich der Bär zu sich an den Kamin ein.

Als ich mich respektvoll zu ihm an den Kamin gesellte, zog er mich zu sich an den warmen Bauch und schlang sanft seine dicke Tatze um mich.Sofort war das Gefühl wieder da. Ungestillte Sehnsucht, Wärme und das Glück der wahren Liebe in meinem Herzen. Nur diesmal würde es einig Monate dauern, bis ich ihn erlösen und küssen konnte.

The Doctoress - Märchen-Haft (10)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt