Kapitel 15

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Wieder tanzten wir bis in die späte Nacht miteinander. Worte hatten wir keine füreinander, sendeten uns aber tiefe, liebende und begehrende Blicke. Mit einem Handkuss verabschiedete Marcus mich. Auf der Treppe, die mit Pech bestrichen war, verlor ich den Schuh und das Pferd brachte mich sicher nach Hause.

In mir kribbelte es, der große Showdown war nahe. Ich war nervös bis unters Dach und trat im Gutshaus von einem Bein aufs andere. Marcus hatte das Gebäude erreicht und Blondie, war die erste, die den Schuh probierte.

„So, nun schau mal zu, wie das im Märchenland läuft", hieb sie sich mit einer Machete den Zeh ab um in den Schuh zu passen.

„Ihhh. Das ist ja widerlich", wandte ich mich ab, als sie auch noch den Zeh aufsammelte und in ihre Rocktasche steckte.

„Normal. Ich hab das schon so oft gemacht. Es tut gar nicht mehr weh." Sie verließ das Zimmer von einem quatschenden Geräusch begleitet, dass durch das Blut im Schuh verursacht wurde. Würgereiz überkam mich.

Eine halbe Stunde später geschah ähnliches mit Brownie, die sich mit derselben Machete die Ferse abhackte. Wie sie damit laufen konnte, war mich schleierhaft, denn sie hatte gewiss auch die Achillessehne durchtrennt. Der Schuh. Der Schuh sah mittlerweile auch nicht mehr wirklich hübsch aus. Hässliche rotbraune Flecken zierten ihn innen wie außen. Zum Glück spülte Brownie ihn eben aus. Und in das Drecksding würde ich nachher steigen müssen. Pfuäääähh!

„Auf keinen Fall, steige ich in diesen versauten Schuh!", protestierte ich, als Brownie damit wieder ins Zimmer kam, in dem ich wartete.

„Du musst. Es gehört dazu!", moserte Brownie zurück.

„Da hole ich mir ja wer weiß was!", schüttelte ich mich vor Ekel. Märchen waren doch wirklich grausam und es gab Dinge, die waren logisch, jedoch wurden sie nie erzählt.

Zum Glück erschien Barbara. Laut seufzend hexte sie den Schuh sauber. „Bitte und jetzt sieh zu!"

Ohne weiteres Murren schlüpfte ich in den Schuh und trat nach draußen. Was ich sah, gefiel mir nicht. Der Horizont war grau. Kein Sternenhimmel zu sehen, keine Bäume, keine Tiere. Das Märchenland war in Auflösung begriffen und erst jetzt erkannte ich das Ausmaß und die Dringlichkeit. Die Menschen, die hier standen, waren gebannt von dem Anblick des Nichts am Horizont. Starr vor Furcht. Selbst Marcus blickte dorthin und nicht zu mir. Es war beinahe so, als hätte man alle eingefroren.

Schon langte das Grau an den Fuß eines Knechtes und verschlang ihn in einer rasenden Geschwindigkeit. Und ebenso schnell reagierte ich, rannte zu Marcus, der nicht reagierte und küsste ihn. Doch nichts geschah. Kein weißes Licht!

Panik übernahm das Ruder und setzte meine Denkfähigkeit außer Gefecht. „Denk nach, Doctoress. Denk nach!", schob ich mir die Hände ins Haar, als ob es das besser machen würde. Warum hatte der Kuss nichts bewirkt. Ich war mir doch meiner Gefühle so klar wie nie!

Eine weitere Person wurde verschlungen, als die grauen Tentakel nach ihr langten. Fast kam ich mir vor wie in „Die unendliche Geschichte"und das hier war Fantasien.

„Schenkelberg!" überkam mich die Angst und eine Träne kullerte aus meinem Augenwinkel. „Marcus, ich will dich nicht verlieren, wo wir soweit gekommen sind. Nicht, wo ich endlich weiß, dass ich dich liebe", schrie ich und wurde ganz leise: „Ja, ich liebe dich, Marcus Schenkelberg." Während das Grauen nach unseren Füßen angelte, begaben sich meine Lippen auf seine so zärtlich wie der Wind. Ein lautes Kreischen ertönte und die Tentakel zogen sich von uns zurück. Marcus erwachte wieder zum Leben und küsste mich ungestüm. Das weiße Licht brach heraus und blendete uns allesamt, wies das Nichts in seine Grenzen.

„Darauf hab ich gewartet, Mylady", war Marcus an der Reihe mich stürmisch und voller ungebändigter Leidenschaft zu küssen. Diesmal gab es kein rotes Licht über uns, dass explodierte. Nein, ein wahres Flammeninferno loderte auf, vor dem sich alle in Schutz nehmen mussten, weil es so heiß von uns abstrahlte. Darin formten sich Feuerbälle, die zielgenau auf das Nichts und seine Tentakel zuflogen und es vernichteten.

Atemlos trafen sich unsere Blicke. Erst jetzt fiel mir auf, dass Marcus eine cremeweiße Uniform trug, die mit goldenen Bordüren abgesetzt war. Die Flammen verebbten, als sie das Grau komplett verdrängt hatten. Der Mond und die Sterne begannen wieder am nachtblauen Himmel zu leuchten. Herrmann und seine Freunde flogen aus dem Taubenhaus auf uns zu. Vereinzelt wurde applaudiert, die Kinder lachten wieder, doch nahmen wir diese Details fast gar nicht wahr. In diesem Moment gab es nur Marcus und mich. Alles andere blendeten wir aus.

„Auch, wenn wir noch nie darüber gesprochen haben", strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich würde es begrüßen, als bald Frau Schenkelberg zu dir sagen zu dürfen. Und ja, es ist ein Antrag. Willst du mich zu deinem Manne nehmen, werte Doctoress?"

„Welcher Augenblick, wenn nicht dieser wäre perfekt für einen Antrag und eine Antwort." Ich lächelte sanft und blickte in sein erwartungsvolles Gesicht. „Die Doctoress hat in diesem Abenteuer alles in sich ergründet und weiß, dass sie ohne dich nicht mehr wird sein können." Ich blickte verschämt zu Boden, um dann wieder aufzusehen und ihm die Antwort zugeben. „Schenkelberg, die Antwort ist...ja...", war meine Stimme sehr leise. „JA, JA und JA!", brüllte ich und sein Blick erstrahlte, während er mich in die Arme schloss und sich mit mir im Kreis drehte.

Einen weiteren Kuss später, tippte Barbara Marcus an der Schulter: „Wie sieht es denn aus? Ich hab deiner Verlobten schon das Angebot unterbreitet, dass ihr hier im Märchenland heiraten könnt, Party inklusive. Interesse?"

Marcus sah sieh an: „Danke, dass ist sehr nett. Aber die Doctoress und ich haben über so etwas noch gar nicht gesprochen. Wir stehen noch ganz am Anfang. Und wer weiß, ob wir als Paar funktionieren? Das werden wir jetzt herausfinden und uns gemeinsam überlegen, wie und wann wir heiraten wollen."

„Ein wenig seltsam seid ihr beide schon. Sie hat fast das Gleiche gesagt. Na, dann. Ich muss euch jetzt noch mitnehmen ins Hauptschloss. Endbesprechung", schnippste Barbara mit dem Finger aus der traumhaften Umgebung des Gutshofes hinein in den Thronsaal von Dornröschens Papa.



The Doctoress - Märchen-Haft (10)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt