Kapitel 4

9 4 12
                                    

Amsel, Drossel, Fink und Star näherten sich meinem Fenster und flogen aufgeregt davor herum. „Mädels, wir sind hier nicht bei Disney – vergesst es. Außerdem kommt gleich mein Prinz und ich muss ihn betören", sprach ich zu den Tieren nicht ohne sarkastischen Unterton.

Und da kam er auch schon um die Ecke galoppiert. Stilecht auf seinem weißen Pferd. Er erblickte den Turm und mich am Fenster. „He da, Holde! Euer Gesang hat mich hierher gelockt. Lasst mich ein! Ich will sehen, wer in meinem Reich so schön singen kann wie ein Engel!"

„Werter Herr, dieser Turm hat keine Tür. Überzeugt euch selbst, wenn ihr mir nicht glaubt. Über eine Strickleiter verfüge ich auch nicht um sie zu euch herab zu lassen. Außerdem wird gleich meine Mutter erscheinen und... und sie ist nicht besonders freundlich", spielte ich meine Rolle des armen gefangenen Mädchens.

Er überlegte. „Nun, dann will ich mich heute damit zufrieden geben, dass ihr mir noch ein Lied singt." Er lauschte der einen und anderen süßen Melodie, die ich mühsam meiner Kehle entrang. Nach etwas Smalltalk verabschiedete er sich formvollendet mit einem Diener. „Ich werde wieder kommen, mein Engel", schwang er sich auf sein wackeres Ross, warf mir eine Kusshand zu und trieb sein Pferd in den dicht belaubten Wald. Schon hörte ich es an anderer Stelle im Dickicht rascheln. „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herab. Mutti kommt und will rauf." Schnell bürstete ich mein Haar und ließ es zu ihr herab. Als sie sich daran empor hangelte, war es das reinste Vergnügen – natürlich nicht.

„Uff", keuchte sie, als sie endlich oben war und ich schon dachte, ich hätte einen Genickbruch. „Das ist das einzige an der Rolle, dass ich hasse wie die Pest", atmete sie tief durch. „Wie geht es dir? War schließlich das erste Mal für dich", kicherte sie und murmelte sich in den Bart „Wahrscheinlich hat sie das andere erste Mal eh noch vor sich...."

„Du hättest auch die Treppe nehmen können!", maulte ich „Nein, das geht nicht, wir sind mitten im Märchen", stöhne sie, dann schwang sie sich auf das Bett und zog die beiden in Alufolie gewickelten Dönertaschen aus ihrem Rucksack. „Fang!", warf sie mir einen zu.

Ich fläzte mich zu ihr aufs Bett und mümmelte meinen Döner. „Ganz schön heiß dein Freund. Er würde gut hierher passen. Wie habt ihr euch kennengelernt?", fragte sie, sich Weißkraut aus den Zähnen pulend,  und schien wieder auf einem normalen Level angekommen zu sein.

„Er hat mich über den Haufen gerannt. Und da ich gerade einen Assistenten benötigte und er alle Qualifikationen aufwies, hab ich ihn eingestellt", antwortete ich nüchtern und wahrheitsgemäß.

„Jaja, die Qualifikationen kann ich mir richtig gut vorstellen." Ihr Gesicht wies einen dezent erregten Ausdruck auf. „Wie gerne würde ich dem mal so richtig an die Bäckchen greifen oder wo..."

Ich verschluckte mich bei dem Gedanken daran, was diese alte Frau so für Vorstellungen hatte. Sie kicherte und klopfte mir auf den Rücken. „Mensch, Mädchen. Ich bin zwar alt, aber habe immer noch scharfe Augen und zuweilen auch Bedürfnisse."

Kopfkino. Ich hustete erneut. Fremdschämen. Zu viel Information. Sie dagegen bekam einen ordentlichan Lachanfall und kugelte über das Bett. Nachdem sie dann noch Zirbenschnaps aus ihrem Rucksack zog, hatten wir erst recht Spaß und ich erwachte am nächsten Morgen – nein, nicht mit Kopfschmerzen – neben einer laut schnarchenden Alten, deren geöffnetem Mund eine Mixtur aus Zirbe und Knoblauch entströmte. Ich öffnete die Augen und blickte auf ein Stück Weißkraut, dass im Luftzug des weit geöffneten Mundes der Schnarchenden mitschwang. Widerlich. „Örps!", schmatzte sie und ich hielt es nicht länger neben ihr aus.

Der Vormittag verlief ruhig. Ich zappte durch durch das TV-Programm des Märchenkanals und stellte fest, dass vorwiegend Werbung lief, Tale-Shopping. Dann sah ich auf mein mPhone und stellte fest, dass ich keine Nachrichten hatte. Ein kurzer Plausch mit Grumpy war sehr erfrischend. Irgendwann schlug das Schnarchmonster seine Augen auf und stellte fest, dass es zu spät zum Mittagessen beim bösen Wolf kommen würde, wenn es sich nicht gleich vom Acker machte. Sie wollte schon die Treppe hinunterhuschen, als sie innehielt, mit den Augen rollte und murmlte: „Oh man, wir sind ja in einer neuen Ausgabe von „Rapunzel, lass dein Haar herab". Sorry Liebes, ich brauch mal dein Haar zum auschecken", schwang sie sich an meiner Mähne aus dem Fenster. „Adiöööö!"

The Doctoress - Märchen-Haft (10)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt