Kapitel 6

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Als der Morgen graute und das Feuer schon lange herunter gebrannt war, verließ mich die Wärme des Bären in meinem Rücken. Alsbald begann ich heftig zu frieren und schürte ein neues Feuer, bevor ich mich zu Rosenrot unter die Decke kuschelte.

„Isser weg?", fragte sie.

„Jepp", seufzte ich.

„Mach dir nichts draus. Er wird jeden Abend wiederkommen bis zum Frühling." Sie gähnte herzhaft und umarmte mich. Dann legten wir schlaftechnisch noch einmal nach.

„Was zur Hölle?!", hörte ich Rosenrot brüllen. Ich sah, wie sie am Fenster stand und nach draußen blickte. „Das steht so nicht im Drehbuch. Mama, ich muß mal telefonieren." Unser Mütterchen rückte das geheime Smartphone raus und Rosenrot rief die Zentrale an. „.... Ihr wollt verkürzen? Warum sagt mir das denn keiner?...Ja, ihr mich auch... Kommunikation ist nicht eure Stärke." Sie legte auf und rüttelte mich an der Schulter.

„Schneeweißchen? Aufstehen. Die Zentrale hat den Zeitraffer eingeschaltet. Wenn du nach draußen siehst, wirst du es sehen..."

Irritiert über diese Aussage stand ich auf und blickte zum Fenster hinaus. Frühling. Alles stand schon in Blüte. Auf warme Nächte an meines Bären Brust, durfte ich wohl nicht mehr hoffen.

„Die Zentrale lässt uns heute auf den Zwerg treffen. Mach dich auf was gefasst. Er ist widerlich und das meine ich auch so. Aber zuerst, Hausarbeit." Sie betrachtete mich eingehend. „Diese Trauer ist nicht gespielt. So gut bekommt das nicht mal meine Schwester hin. Kopf hoch. Ihr beide seid die Helden der Märchenwelt."

Betten bezogen, die Fenster des kleinen Häuschens geputzt, das Geschirr gespült, die Böden gekehrt, machten wir beide uns Hand in Hand am Nachmittag auf zum Reisig sammeln. Und da sah ich ihn, den verwelkten, weißbärtigen Zwerg, der sich mit seinem Bart in einem Holzspalt verfangen hatte. Verwelkt war gar kein Ausdruck. Er sah aus wie eine getrocknete Tomate. Genauso schrumpelig und sein Gesicht vor Wut genauso rot. Und der Schweißauf seiner Stirn glänzte so, als hätte man die getrocknete Tomate gerade aus dem Öl gezogen.

„Ich habs dir ja gesagt." Rosenrot ging voran. Sie kannte das ja schon. Ihn so in echt zu erleben war unheimlich... unheimlich.

„Hallo, Zwergi!", flötete Rosenrot und setzte sich neben ihn um an seinem Bart herumzufummeln.

„Du sollst mich nicht so nennen!", giftete er zurück. „Und wer ist das da? Ist das der Grund, warum ich schon wieder spielen muss und sie auch noch den Zeitraffer angeworfen haben?" Sein Blick war...tödlich und machte mich wütend. Ich griff in meine Schürzentasche und holte die Schere raus um ihm ohne ein Wort den Bart abzuschneiden. „So!"

„Was soll das?!", fluchte er. „Du hältst dich nicht an die Spielregeln!"

„Das ist mir doch egal", fauchte ich. Wir beide, der Zwerg und ich, waren so negativ gepolt aufeinander, wie es irgend ging.

„Na dann, du Zicke!", machte er sich aus dem Staub. „Wir sehen uns und ich weiß nicht, ob es dir gefallen wird." Rosenrot dagegen lächelte er freundlich – soweit man eine getrocknete Tomate so bezeichnen kann – an. „Bis dann, meine Liebe."

„Nicht gut, gar nicht gut", fuhr Rosenrot sich mit der Hand durchs Gesicht. „Er kann uns richtig Ärger machen, weißt du."

„Das soll er mal versuchen." Ich begann nach trockenen Ästen zu suchen und freute mich schon auf das Wiedersehen mit dem Zwerg.

Am nächsten Tag geschah nichts, wir erledigten die nötigen Hausarbeiten und trafen nicht auf den Zwerg. Auch am darauffolgenden Tag, lief er uns nicht über den Weg und darauf auch nicht. Eine ganze Woche lang. Ich wurde schier verrückt vor Sehnsucht nach meinem Bären, sprich Marcus, sah seinen Schatten durch den nahegelegenen Wald huschen und ihn vor dem Kamin liegen, obwohl ernicht da war. Mit gesenktem Kopf saß ich am Abend am Tisch und schniefte wie bei meinem ersten Liebeskummer. Das Mütterchen strich mir über den Rücken. „Mei, di hots obo erwischt. Des wiad scho."

„Was haltet ihr morgen von Fisch? Wir haben hier im Haus nicht so viel zutun und die Zeit zum Angeln wäre da. Außerdem hab ich gehört, das Bären auch Fisch mögen", grinste mir Rosenrot augenzwinkernd zu.

In der Nacht träumte ich vom Bären, nein Marcus, von Marcus in meinem Bären – hach, ich war schon beinahe krank vor Sehnsucht. Am Morgen ging es zeitig los und als wir uns eine schöne Stelle am Fluss ausgesucht hatten, verließ Rosenrot mich.

„Ich bin dann mal weg. Hab was zu Hause vergessen. Der Zwerg erscheint erst heute Mittag, bis dahin bin ich schon längst wieder da."

„Du willst mich doch jetzt hier nicht alleine lassen?!" sah ich sie verzweifelt an.

„Öhm, doch. Auch eine Rosenrot darf Geheimnisse haben. Horrido!", drehte sie sich fröhlich pfeifend auf dem Absatz um und verschwand im Grün.

„Boah! Ich fasse es nicht", bestückte ich meine Rute mit einem Appetizer für die Fische und warf sie aus. In Gedanken versunken, vor Sehnsucht und Einsamkeit gänzlich geistig abwesend, erschrak ich mich fürchterlich, als mich etwas im Rücken traf. Ich dachte sofort an den Tomaten-Zwerg.

The Doctoress - Märchen-Haft (10)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt