Kapitel 10

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"So meine Gute, hier endet die Fahrt.", verkündete Norik gut gelaunt und natürlich frohen Mutes, "Viel Spaß, dir noch, du weißt hoffentlich, wie du nach Hause kommst... Ich habe heute früher Schluss, weißt du? Wenn nicht, scheinst du ein Problem zu haben, kannst ja dann nach dem Weg fragen! Tschaaahaaauuu! Ach ja, das hätte ich ja fast übersehen! Denk dran, heute Abend ist ja noch dein Gespräch mit dem Diri! Wir sehen uns nach der Schule!"

Und damit machte er sich schnurstracks durch die breite Glastür vom Acker. Sie waren durch das gesamte graue, trübselige Gebäude geflüchtet, sodass Zuni schon speiübel geworden war und ihr Atem in einem unkontrollierten Rhythmus ihren Körper verlassen hatte. Nun stand sie in einem ebenso trostlosen weißen Flur, mit einigen metall glänzenden Schließfächern in den beschmutzten Ecken und wurde einfach mutterseelen allein hier zurückgelassen!

Von wegen "Passe auf deine große Schwester auf!" Ihr überaus lustiger kleiner Bruder, hatte sie einfach so in diesem einen Raum von vielen hier zurückgelassen und erfreute sich nun ihrer Hilflosigkeit.

Trotzig stieß sie mit dem Fuß auf und riss wutverzerrt an ihrem neuen roten Shirt unter ihrer offenen Jacke. Sie stieß einen durch die Räume hallenden Schrei aus, der ihre Angst, Ungewissheit und Planlosigkeit, mehr als gut genug ausdrückte.

Konnte sie nicht einmal in ihrem Leben, in ihrem wirklichen, jetzt schon erbärmlichen Leben, einfach mal mit Glück gesegnet sein? War ihr tiefschläfriger Traum nur eine schon lange dagewesene Wunschvorstellung gewesen?
Denn wenn dies zutraf, konnte sie die alte schwarz-weiß Zuni wirklich sehr gut nachvollziehen.

Ihre Vermutung, was ihr altes- Ich betraf hatte sich neben dem Marathon, den sie durch das komplette Schulhaus gehechtet waren, nur noch einmal wortlos bestätigt. Die übrigen Schüler an den Schließfächern und auf den Fluren, die nach Noriks fast unverständlich gehauchten Worten, auf dem Weg zum Unterricht waren, hatten ihr nicht einmal einen geschielten Blick gegönnt. Von einem netten Wort, oder freundlichen Begrüßung ganz zu schweigen. Der einzig wahre Hinweis darauf, dass sie sie überhaupt bemerkten, war lediglich genau dieses Verhalten gewesen, was sie dem so sicher machte.

Zuni hatte sich ihre ganze Lebensspanne lang verkrochen, vor ihren Eltern, ihrem Bruder, ihren Mitschülern und Lehrern. Hatte nicht viel gesprochen. Und wenn, dann... Das wusste sie selbst noch nicht so genau... Aber was eindeutig nicht zu übersehen war, war, dass es bei so einer Begegnung nicht besonders gut ausgegangen sein musste... Wenn sie sich angesichts der langsam verheilenden Wunde auf ihrer Wange nicht täuschte...
Ihre Identität war nach wie vor, ein immer größer werdendes Geheimnis. Fragen, die ihre Sandgrube mit jeder einzelnen von ihnen tiefer und tiefer aushöhlten.

Zurückhaltender. In sich eingefallener... Verschlossen. Prügelei. Schuldirektor.

Eine Außenseiterin.

Mit jedem ausdruckslosen Gesicht, in das sie sich wagte zu schauen, bekam ihre Seele einen weiteren schmerzhaften Riss in ihr fleischechtes Herz. Sie konnte mit keinem Schritt, den sie tat, glauben, wie sie es vorher bevorzugt hatte, sich so erbärmlich zu benehmen.

Aber moment?! War es nicht genau das gewesen, was sie vor ein paar Augenblicken noch gedacht hatte zu verstehen?

Sie beruhigte sich allmählich und griff sich stattdessen ermüdet an den Kopf, um ihm bei der Aufrechterhaltung behilflich zu sein.
Diese ständigen Streitereien zwei unbekannter Mächte in ihrem Inneren, war das schlimmste von allem. Es war, als wüsste ihr Körper nicht, wem er gehörte. Als wüsste ihr Herz und Verstand nicht wem sie zustanden. Als wüsste ihre Seele nicht, wohin sie fliehen sollte.

So, als wüsste Zuni nicht, wem sie die Kontrolle überlassen sollte:
Sich selbst,
oder Namenlos?

Schwarz-weiß,
oder farbenfroh?

Wirklichkeit,
oder Traum?

Sie musste wirklich verrückt geworden sein! Vielleicht war alles in der letzten Zeit, doch ein bisschen viel gewesen... Aber der eine, wie auch der andere Teil von ihr wusste, dass man dafür nichts ändern, oder dagegen absolut nichts tun konnte. Es war das Leben.

Es war so viel Segen, wie auch Fluch.

Wurde einem gegeben, um wieder genommen zu werden.

Ein geliehenes Geschenk.

Ein überaus großzügiges Angebot, was einem nie voll und ganz gefiel. Vielleicht würde sie genau dies, nie verstehen, wahrscheinlich tat das niemand. Aber vielleicht redete sie sich auch nur Unsinn in den Kopf und es war nur eine Sache der Zeit.

Zeit. Eben diese hatte sie soeben nicht. In ihrem Traum war es ihr immer wichtig gewesen in allem und bei jedem pünktlich zu sein. Und ohne zu überlegen und erst gar nicht auf die andere Stimme in ihrem Kopf zu hören, entschied sie sich, das hier auch nicht anders fortzuführen.

Also tat sie einen vorsichtigen Schritt. Der glatte Fußboden quischte unter ihrer dünnen Schuhsohle, als sie ein wenig nach vorne rutschte. Der Laut hallte echotisch, als einziges Geräusch in allen nahe angrenzenden Räumen wieder.

Die anderen Schüler waren schon längst in ihren Unterricht verschwunden, sodass Zuni weit und breit der einzig sichtbare Mensch im ganzen Umfeld war und die Flure so still gelegt waren, wie ein flacher nicht stark belebter See in der Abenddämmerung.

Zu ihrem Guten hatte Norik ihr weder eine Wegbeschreibung zu dem Zimmer gegeben, wo sie vor ein paar Minuten eigentlich schon hätte erschienen sein müssen, noch eine Karte des Hauses in die Hand gedrückt.

Der Idiot war wahrscheinlich schon längst an seinem Ziel angelangt und grinste seine Lehrerin, in dem Wissen, dass sie wahrscheinlich immer noch hilflos durchs Schulhaus irrte, frohgesinnt an.
Was für ein Ärger aber auch!

Sie hatte schon beim Anblick dieses Ungeheuers, in dem sie sich gerade befand, gewusst, dass die Schule, wie sie sie bisher gekannt hatte, nicht dieser entsprach.

In ihrem Traum hatten ihre Eltern sie meist zur Schule gebracht. Diese waren oft in nahegelegenen kleinen Zwergstädten aufzufinden gewesen.
Ihre eigene hatte sich ganz am Rande einer solchen einquartiert. Auf dem kleinen Innenhof vor dem niedlichen alten Gebäude, hatten sich oft Schüler, wie Lehrer fast jeden Tag der Woche versammelt, um nach einem fröhlichen guten Morgen allesamt das Haus zu betreten und fleißig zu lernen, oder zu lehren. Es war egal gewesen ob älter, oder jüngeres Kind, sie hatten sich alle zusammengesetzt und ein friedliches Miteinander genossen.
Die Schule war eines der schönsten Dinge in dieser gottverdammten Dreckslüge gewesen. Einer außerordentlich schönen Dreckslüge...

Doch ob dieses Leben nun Lüge war, oder nicht, sie würde es zur Wahrheit machen. Sie würde ihre Familie finden, auch wenn sie selbst ebenfalls nach einer Weile verstanden hatte, dass diese nicht ihre wirkliche Existenz gewesen war. Und wenn sie erstmal einen Weg zu und aus diesem Traum gefunden hatte, dann gab es wohl auch einen Weg zurück.

Es gab doch immer einen Weg, oder nicht?

Der Traum des Lebens | PAUSIERTWo Geschichten leben. Entdecke jetzt