Kapitel 21

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Noch nie, tatsächlich niemals war ihm jemand unter die Augen gekommen, der sich dem rohen Tod widersetzte. Dem es völlig egal war, wie und mit welcher schrecklichen Folge. Der ihn einfach bat zu leben, obwohl er doch das völlige Gegenteil davon war. Ihn bat aufzuhören zu atmen, zu existieren und ihn willig anspornte zu leben.

Zuni kannte in diesem halsbrecherischen Moment keine Grenzen. Es war, als wäre ihr altes rebellisches Ich mit einem Hammerschlag zurückgekehrt, wie aus dem Nichts. Jeder ihrer hallenden Schritte war unüberlegt. Unvorsichtig. Ein plötzlicher Sturm, ein Tonardo, der sich in der vergangen Stunde angesammelt hatte. Ihr dunkles Haar schlug ihr in das helle Gesicht und verdeckte damit ihre angespannten Züge, als sie endlich zum Stehen kam.

Für einen kurzen Moment überlegte er aufzustehen, sie besitztümerisch zu packen, wie ein Hund an der Leine, um sie wieder auf ihren noch warmen Platz zurückzuschleifen, doch er hatte ihr schon einmal die besonnene Freiheit gestohlen. Tat es womöglich schon längere Zeit, als er eigentlich wahrhaben wollte.

Man hatte nur selten eine Wahl, egal ob sie besonders schlecht, oder gut ausfiel. Doch wenn man sie bekam, musste man sie, ohne einen einzigen Wimpernschlag zu vergeuden, ausnutzen. Dazu gebrauchen auf jegliche Art, so unnütz sie auch war, nützlich zu sein. Für das tote Leben, oder für den lebendigen Tod.

Zuni rannte nicht für dieses schöne Leben, das vielleicht allgemein als Gegenspieler des schwarzen Todes bekannt geworden war. Man hatte gegen seinen strengen Fortlauf keine größere Chance, als in der roten Hölle. Das helle Leben und der dunkle  Tod schienen gemeinsame Verbündete zu sein. Freundselige Mitstreiter, die ihre speziell ausgesuchten Opfer auf die gleiche grausame Weise und doch unterschiedlich quälten.

Der eine mit dem hellen Licht mal mit glücklichen reibungslosen Momenten, die einem im nächsten unbekommenen Augenblick schon wieder wie ein grässlicher Fluch vorkamen.

Und der andere dunkle Tunnel durch ruhige Rache gesegnet, von der niemand wusste woraus sie genau bestand und wann sie eintreffen würde.

Der qualvolle Tod von dem niemand behaupten konnte, dass er überhaupt Rache war...

Allmählich konnte er sich nämlich tatsächlich ausmalen für wen sie da so entschlossen kämpfte, für wen sie so hastig lief, wen sie auf gar keinen Fall verlieren wollte...

Denn es gab nur einen, der in diesem Augenblick augenscheinlich zwischen diesen beiden engen Freunden stand. Der sich ihnen gegenüber sah und alles, was er besaß, in diesem Moment versuchte gegen sie zu erheben.

Für Norik.

"ZUNI!", rief eine ihr bekannte Stimme und ihr von den engen Wänden des erdrückenden Ganges, in dem sie sich zurzeit bewegte zurückgeworfenes Echo zu

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"ZUNI!", rief eine ihr bekannte Stimme und ihr von den engen Wänden des erdrückenden Ganges, in dem sie sich zurzeit bewegte zurückgeworfenes Echo zu.

Und es kümmerte sie nicht im geringsten. Sollten sie doch panisch schreien, verlassen brüllen. Sie an den dünnen Armen mitreißen, dass ihr die so verletzlichen Knochen brachen und sich knackende Glieder trennten. Es war ihr verdammt nochmal egal, interessierte sie nicht einmal in der Macht des Windes.
Sie mochten kalte Furcht und bedrängende Angst um ihre schutzlose Person haben. Schwer lastende Trauer, so wie ihre eigene. Sollten sie sich doch so auch ihre eigenen verfluchten Mittel beschaffen sie fix zu verarbeiten, so wie sie es schon seit geraumer Zeit kläglich versuchte. Es war ihr gleich.

"Wann?", fragte sie die erschrockene im Kittel bekleidete Frau harsch, als sie schließlich, mit wehenden Haaren und stockender Brille auf der Nase - jetzt nur zusätzliches Gewicht, in ihrem schon so schweren Gesicht - , vor ihr zum Stehen kam,
"Wann hat es endlich ein Ende?"

Die schockierte Frau hatte anscheinend nicht mal die geringste Ahnung, dass die aufgehetzte Zuni damit nicht nur das ewige Warten in Begriff nahm, denn sie drehte sich nun vollständig zu der aufgeregten Patientin um und verlagerte ihr Gewicht entspannt aufs andere, ebenfalls in einer weißen Hose steckende Bein, bevor sie den Kopf wohl etwas verwirrt schräg legte und das vor Wut zitternde Mädchen tröstend an ihre bebende Schulter nahm.

"Ach bald Liebes, bald. Setzt du dich nicht lieber wieder hin, zu deinem Freund und liest ein paar Hefte? Ich habe gehört sie haben dort sogar die neuesten Kollektionen von..."

"Nein! Ich will keine..."

Eine eiskalte, steife Hand unterbrach sie harsch, als sie sich sanft auf ihren pochenden Körper setzte und sie wie aus einer Trance zwang, fast benommen zurückzufallen.
Wer wagte es bloß sich so wahnsinnig einem wirbelndem Sturm entgegenzustellen?!

Einem zerstörerischen Tornado aus tödlicher Ruhe. Staubigem Sand, der sie ohne zu zögern überraschend überschütten konnte, ohne das je einer davon erfahren würde. Ohne, dass je einer sie vermisste. Und ohne jegliche Hoffnung, dass jemand kam, um sie schlussendlich zu finden.

In ihren dunkelbraunen sonst so treuen, strahlenden Augen lag keine Freundlichkeit, als sie dem ausdruckslosen Blick ihrer bleichen Mutter hinter sich begegnete. Diese hielt ihm jedoch stand, ihr Gesicht so weiß wie der Mond und ihre langen geschwungenen Lider vor silbernen Tränen glitzernd, wie das klare Licht der Sterne am bodenlosen Nachthimmel. Doch keine strahlende Sonne erhellte ihr noch wie zuvor am Morgen aufgewecktes, fröhliches Gesicht. Kein einziges Lächeln drang über die groben Linien ihres steifen Mundes, der sich trotz der vorherigen rosigen Fülle, einfach in eine dünne blaue Wolke verwandelt hatte.

Trauer. Es war kernlose Trauer, die in ihrer ausdruckslosen Miene geschrieben stand. Die, die sie hier und jetzt gerade vor ihr als tragisches Bild verkörperte und schaurig darstellte.

Wut. Brennende Wut über alles, was ihm je widerfahren war. Unglücklicher Zorn über das tote Leben, über den lebendigen Tod. Die arme Zuni, war ein gruseliges Ebenbild dessen.

Verzweiflung. Der muskelöse Mann, der es wohl vor lauter Aufregung nicht mehr ganz geschafft hatte seine formelle Jacke vollständig und anständig zuzuknöpfen und hinter ihrer bleichen Mutter mit festem Schritt durch die gläsernen Schiebetüren getreten war, war die nackte Verzweiflung in einer menschlichen Person. Diese absichtliche Ignoranz und das versteckte Misstrauen, mit dem er den schwarzhaarigen leer blickenden Jungen aus zusammengekniffenen Augen musterte, war erschreckend. Der kühle abwertende Blickkontakt der beiden...

Schaudernd zuckte die noch immer zitternde Zuni zusammen, als die kühle Hand auf ihrer Schulter, ihre zarten Finger nahm und behutsam mit sich in Richtung Ausgang zerrte.
Sie folgte ihr, wagte es erst gar nicht stur zu widersprechen.

Weg von Norik, von einem liebenswerten Bruder, den sie hier und jetzt, wie auch schon den bescheidenen Rest dieses erbärmlichen Tages rücksichtslos im Stich gelassen hatte. Versuchte nicht den ihr praktisch durch den Finger weggleitenden weichen Sand festzuhalten, als die qualvolle Trauer sie packte und die heranpirschende Verzweiflung sie trug.

Und wortlose Stille sie überkam.

Der Traum des Lebens | PAUSIERTWo Geschichten leben. Entdecke jetzt