Kapitel 12

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"Was zum Teufel ist das?", schrie sie über die ganze Straße, bis hin zum verlassenen Schulhof hinüber.

Schockiert weiteten sich Larions bewölkte Augen.
"Pssssssst! Willst du, dass uns jemand erwischt, oder warum brüllst du so?!", flüsterte er mit einem starken Finger an seinen schmalen Lippen, sodass diese vor Druck schon weiß hervorstachen.

"Was ist das? Ein Fahrrad, ein Auto...?", fragte sie nun, etwas leiser.

"Das ist ein Motorroller", sprach er langsam und deutlich weiter, "Klingelt da was bei dir? Brumm, brumm und so?"

"Ja, ja klar! Ein Motorroller! Warum ich da nicht gleich drauf gekommen bin...", log sie sarkastisch. Vielleicht war es besser, vor ihm nicht sofort wie eine völlige Spinnerin dazustehen. Dann wären sie nämlich wieder ganz unten beim absoluten Nullpunkt angelangt. Zumindest was neue Freunde betraf.

Larion zeigte ihr mit großer Wahrscheinlichkeit, den gequältesten Gesichtsausdruck, den er kurzfristig aufdrücken konnte und schwang sich auf die, wie ein Fahrrad, zweirädrige dunkelgrüne Kiste. Von seinem Bau konnte man durchaus an das klapprige Transportmittel mit dem Norik sie zur Schule transportiert hatte denken, aber anhand der viel dickeren Räder und des Schildes am hinteren Teil des Geräts, mit den vielen Buchstaben und Zahlen darauf, konnte man sich sehr gut an ein Auto erinnern.

Er griff entspannt hinter seinen Sitz, um das schwarze Polster hinter sich hochzuklappen und zwei riesengroße Helme aus dem geheimen Fach zu ziehen. Sie waren überdimensional groß, liefen am unteren Rande spitz zu, hatten eine durchsichtige Scheibe inmitten des Kopfes und waren in vielen bunten Farben vielfältig gestaltet. Mit diesen riesigen, monströsen Sicherheitsvorkehrungen zerstob sofort jeder Funke ihrer insgeheimen Hoffnung, im Verkehr wenigstens halbwegs unauffällig zu bleiben... Denn nach dem Lärm, den sie augenscheinlich auf dem Hinweg verursacht hatten, war ihr nicht gerade nach mehr davon zumute.

Er drückte ihr vorsichtig einen von ihnen in die Hand. Heiliger Wind, waren diese Teile schwer!

"Sind eigentlich Motorrad-Helme, aber meine Mama ist manchmal etwas übervorsichtig...", meinte er bedrückt.

Innerlich konnte Zuni vor freudigen Erkenntnissen kaum still stehen. Denn erstens, er hatte ein Geheimfach vor ihren Augen geöffnet! Bedeutete das etwa, dass er ihr schon mächtig vertraute?

Zweitens, ihre Sicherheit, schien ihm trotz allem und auch trotz ihrer erbärmlichen Vergangenheit, noch sehr wichtig zu sein!

Und Drittens... Nun, drittens gab es nicht... Klar konnte sie sich irren, wie es schon so oft in letzter Zeit der Fall gewesen war, aber vielleicht, war an der ganzen Sache ja tatsächlich etwas wahres dran!

Sie brachte ein stummes Lächeln zustande, worauf, wie sie es aus dem Augenwinkel wahrnahm, Larion sie mit geöffnetem Mund, verwundert anstarrte.

Schließlich stieß er ein schweres Seufzen aus, bevor er sich auf seinem Polster nach vorne lehnte und seine Lenker -so hatte sie es aus Noriks holpriger Fahrt geschlossen- in Angriff nahm.

Nachdem er mit einem stummen Nicken auf die Sitzmöglichkeit hintendran gedeutet hatte, saß Zuni schon hinter ihm. Fest umklammerte sie seinen riesigen Körper und versuchte ihm dabei nicht allzu sehr wehzutun. Der knallbunte Helm auf ihrem Kopf, eine Gesicht zerdrückende Behinderung, die sie mit nicht beeindruckend großer Erleichterung, die nächste Zeit wohl zu ertragen gezwungen war.

Larion atmete nochmals einmal tief durch, bevor er sich ebenfalls einen solchen Helm über den Kopf hob und mehr sich selbst, als sie persönlich fragte:

"Wo wohnst du denn?"

"Was? Wieso sollte ich nach Hause wollen?", fragte sie entzürnt.

Er zuckte ohne jegliche Gefühlsregung die Schultern:
"Wohin willst du denn dann?"

Schnell stellte sie klar: "Eigentlich wollte ich mit dir mitkommen... Vielleicht irgendwo spazieren, oder..."

Ungläubig wandte er sich zu ihr um. Nach einem kurzen Moment drehte er sich dann aber wieder der Straße zu und sagte mit heiserer Stimme:

"Ich fahre jetzt in den Park."

"Na schön, ich komme mit!", verkündete sie auffallend hysterisch, schon furchtbar aufgeregt, was alles auf sie zukommen würde. Sie liebte Parks und Gärten! Sie hatte nicht oft Gelegenheit bekommen, welche zu besichtigen, weshalb sie dieses Vorhaben nun umso mehr erfreute. Sie waren nur in der Nähe von Adels-und Königshäusern auffindbar gewesen, meist nicht öffentlich zugänglich. Aber die wenigen, die sie in ihrem Leben besucht hatte, waren atemberaubend schön gewesen.

In der nächsten Sekunde nahm sie ein leises Klacken und darauffolgendes rattern war.

"Motor läuft.", warnte Larion, "Füße hoch, sonst sind sie weg, oder mindestens gebrochen."

Diese Härte in seiner Stimme... Zuni schluckte einen fetten Kloß, der gerade in ihrem Hals stecken geblieben war, herunter. Blitzschnell nahm sie ihre Füße vom Boden und stellte sie auf die am Motorroller extra angebrachten Stützen.

Anders, als ein Fahrrad hatte dieses Gerät, wie auch immer es gebaut worden war, keine kleinen Pedalen, auf denen man sich, wenn es vorwärtsgehen sollte, abmühen musste.

Stattdessen legte er seinen Fuß auf ein kleines Treppchen vor sich. Langsam drückte er es, mit purer Kraft seiner eigenen Körperbeherschung herunter.

Als sie sich langsam, von dem kleinen markierten Platz an der Straße vor der Schule lösten, krallte sie ihre Fingernägel vor Schock in seinen Bauch und presste ihr Gesicht, wie bei ihrem Bruder zuvor auch, an seinen stark veralteten Rucksack.

Die Erinnerung daran, trug ihr ein schmales Lächeln ein. Norik hatte seine Bestrafung bereits lange vor seinem Vergehen erhalten...

Doch Larion zeigte nicht ein einziges Anzeichen von Schmerz. Sein Gesicht weiterhin eine ausdruckslose Miene. Sein Körper, ein erstaunliches Maß an nackter Kontrolle. Seine Seele, ein tiefer Brunnen, in den sich niemand wagte hinunterzustürzen.

Und doch hatte sie ihr Seil hinab geworfen, ungewiss ob es dick genug war. Ohne zu wissen, wie der Himmel aussah.

Der Traum des Lebens | PAUSIERTWo Geschichten leben. Entdecke jetzt