Kapitel 23~ die Puppe

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"Wage es ja nicht diesen Raum zu betreten! Deine Mutter braucht Ruhe, sie ist gerade in einem sehr schlechten Zustand, ihr geht es wirklich nicht gut, verstehst du das nicht?!", fuhr sie ihr Vater harsch an, der mit schwitzigen Rinnsalen überfülltem Gesicht, vor der kleinen Holztür an das angrenzende Schlafzimmer ihrer Eltern stand.

Selten hatte sie ihn so besorgt und unkontrolliert gesehen. Der freundliche Mann mit der ruhigen Aura und den treuen Augen, die so glückserfüllt waren, wie die Taten der Bäume draußen im Wald, schien sich tief unter einem dicken Haufen Laub vergraben zu haben, uninteressiert was sich draußen abspielte, oder ihn je wieder zu verlassen.

"Du wirst keinen Unsinn anstellen, solange ich fort bin, hörst du mich? Keiner verlässt das Haus auch Recha nicht, okay?!", fuhr er fort und deutete mit einem straff gestreckten Finger, auf die Kleine von ihrer im anderen Raum vor Schmerz schreienden Mutter selbstgenähte Puppe, die das kleine Mädchen nirgendwo zurücklassen würde, seit sie sie zum Geburtstag von ihren Eltern bekommen hatte.

Der Ausdruck ihres noch immer angespannten Vaters wurde misstrauisch, auch wenn er die Liebe zu ihr und ihrer Mutter darin nicht ganz verbergen konnte, bevor er sich der Holztür, die bisher den Großteil der gequälten Schreie verbergen konnte, mit einem schnellen Ruck öffnete und nachdem er eingetreten war, wieder hastig schloss.

Abrupt zuckte die kleine Fee zusammen, als die Rufe für diesen kurzen Moment lauter, immer lauter wurden und ohne Aufhalten an ihr Ohr drangen.
Ihr winziger Magen knurrte und drohte jede Minute seinen Inhalt, auf die glatten Holzdielen zu vergießen.

Als ihre Mutter in diesem schrecklichen Ausmaß erneut ihre Stimme erhob, schaffte sie es jedoch, gerade noch rechtzeitig, sich ihre schmalen Händchen über die Ohren zu werfen und dem Getöse, wenn auch nur minimal, ein Ende zu setzen.

Diese Schreie waren voller Qual, wie Vorfreude zugleich, auf das neugeborene Kind, was sie nun schon seit gut fast einem ganzen Jahr erwarteten, seitdem sich ihre Mutter das ein oder andere Mal entleert hatte, so wie sie es gerade beinahe tat.

Ob sie bei ihrer ersten Geburt wohl genauso viel geschrien, genauso nah am Zusammenbrechen gewesen war? Als sie ihr das Leben und damit auch den Tod schenkte? Ob ihr Bruder oder ihre Schwester, ihr wohl sehr ähneln würde, vielleicht mehr geliebt werden würde? War es zukünftig dieses Kind, was auf den Armen ihres Vaters herumgeschleudert wurde? Mit dem Wind rannte? Immer das erste Kuchenstück am Essenstisch bekam?

Mit zitternden Gliedern und immer schwächer werdender Hoffnung auf die kommende Zeit, packte sie sich ihre Puppe Recha, die heute beinahe genauso traurig aussah, wie sie und seit den vergangenen Monaten - vielleicht waren es auch schon Jahre - ihr bester Freund gewesen war. Ihre dünnen Fingerchen krallten sich bei jedem einzelnen Schrei, die das ganze Haus erfüllten, tiefer in den seidenen Stoff des Spielzeugs, bis ihre Fingernägel die weiche Oberfläche durchstachen und die erste Wolle zum Vorschein kam.

Recha war kurz vor dem Platzen, als die Rufe verstummten. Wie ein Damm vor dem Fluss, trennte sich die noch nachhallende ausgezehrte Stimme, von den verklungenen Lauten und endloser Stille.

Irgendwas, war hier ganz sicher nicht, wie es sein sollte...
Nicht nur die qualvolle Ruhe und die verebbten Schreie bezeugten dies, sondern auch das plötzliche Stillstehen der Welt. Weite Baumkronen, die hinter den matten Fenstern der Küche von sattem Grün erhellt worden waren, schienen nicht mehr im Takt des Windes zu schweben und die umherwirbelnden Blätter keinen Ton mehr von sich zu geben.

Was einst Musiker und ihr Dirigent gewesen waren, waren nun nur noch Schatten von dem, was ihnen früher möglich gewesen war.

Ein Schatten von dem, was ihrer Mutter möglicherweise früher erlaubt gewesen war, denn was wenn sie...?

Ohne noch länger darüber nachzudenken, sich auzureimen wie und warum, stürmte sie, ebenfalls ohne jegliches Bedenken über die Worte ihres Vaters in das trotz des langsam aufsteigenden Mondes dunkle Schlafzimmer.

Und was einmal ihre liebliche, wunderschöne Mutter gewesen war, war nun nur noch eine lose Hülse, ein Skelett, mit dünnem Hautüberzug. Ihre Augenhöhlen hohl und voller glitzernder Tränen, die das Mondlicht in einen silbernen Schein tauchten, ihr seidiges Gewand blutüberströmt.

Und in ihren zitternden Armen...

In ihren zitternden Armen hielt sie ihr regloses Kind. Kein Schrei drang über seine Lippen und kein helles Lachen erfüllte den toten Raum.

Kein strahlendes Leben pulsierte unter der Haut dieses unschuldigen Säuglings, kein Finger würde gekrümmt werden und kein Pochen, eines neuen kleinen Herzens überkam die atemlose Welt.

Der Blick ihres stummen Vaters, welcher auf seiner noch immer einzigen Tochter lag, war schwer. So gewichterfüllt wie ein ganzer Scheiterhaufen und langsam versengende glatte Haut.

Jeder Baum im Wald, der sich in seinem Lächeln widergespiegelt hatte, war verbrannt, zu Asche verpufft worden und nur noch ein Hohn auf dessen, welche Freude in ihren Rinden steckte.

Stattdessen war nun ein anderer an ihre Stelle getreten, ein langatmiger Freund, Feind, Begleiter und treuer Kamerad.

Ein neuer Spielverderber, namens der Tod.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 13, 2021 ⏰

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