(1) Whiskey Sour

1.5K 35 0
                                    

"Hey Mike, das gleiche wie immer.", rief ich seufzend in den leeren Raum hinein.

Mike, der Keeper der Bar "Golden Eye", ein Glas und ein Wischtuch in den Händen haltend, schaute von der Theke zu mir auf und legte den Kopf schief.

"Du bist zwar Freundin und Stammkundin, aber findest du nicht selbst, dass es ein bisschen übertrieben ist, hier eine Stunde vor Betrieb schon aufzukreuzen?"

"Bei dem Tag, den ich heute hatte?", fragte ich rhetorisch, während ich meine Jacke an die Garderobe hing. "Nein."

Er seufzte nur. Als ich mich auf einen der hohen Barhocker an der Theke setzte, meinem Stammplatz, stand bereits ein Glas Whiskey Sour auf dem Tresen. Ich nippte daran und verzog vor der Säure und dem Alkohol mein geschwollenes Gesicht.

Mike beobachtete mich dabei, seufzte noch einmal und nahm sich ein weiteres Glas zum Abtrocknen.

"Du hast dich mal wieder in etwas eingemischt, das dich nichts angeht."

Er kannte mich gut. Manchmal machte es mir fast Angst, so gut kannte er mich. Aber wir kannten uns ja auch schon seit des Studiums.

"Fresse halten, weiter trocknen", antwortete ich stumpf.

Ich spare mir hier, zu erwähnen, dass ich verdammt schlechte Laune hatte.
Mike grunzte daraufhin nur. Wahrscheinlich war er des Seufzens überdrüssig.

"Du solltest dir langsam mal einen anständigen Job suchen.", mahnte er mich, wie er es häufig tat.

Jetzt war es an mir, zu grunzen. Ich nahm noch einen Schluck meines Whiskeys.
"Ziemlich schwer bei meinem Vorstrafenregister"

"Du hast ein Abitur von 1,3 und ein abgeschlossenes BWL-Studium. Es gibt genug Arbeitgeber, denen das als Grund reicht, dich einzustellen, solange nicht Mord auf deiner Liste steht."

Ich kann schon nicht mehr sagen, wie oft wir dieses Gespräch bereits geführt hatten. Und wie oft ich ihm schon dieselbe Antwort gegeben hatte.

"Du hast ein Abitur von 1,9 und ein abgeschlossenes BWL-Studium und bist als Barkeeper geendet."

Ich schaute gelangweilt auf die vielen Spirituosen hinter ihm, doch ich konnte mir sein Agenverdrehen so gut vorstellen, dass ich es fast hören konnte.

"Ich bin nicht als Barkeeper geendet, sondern habe mir den Traum einer eigenen Kneipe erfüllt."

Er stellte das letzte Glas verkehrt herum hinter sich in die Schrankwand und legte das Wischtuch auf die Arbeitsplatte.

"Hör' auf, das ständig 'runterzureden. Ich habe weitaus mehr aus meinem Leben gemacht als du."

Ich zuckte beleidigt und nahm einen weiteren Schluck. Der Alkohol brannte unangenehm in meiner Kehle.

Er hatte recht. Ich hasste es, wenn er recht hatte. Ich trieb mich den lieben langen Tag durch die Gassen dieser dreckigen Stadt und verdiente mein Geld mit kleinen Diebstählen und Handlangerdiensten für befreundete Kleinkriminelle. Ich war das Mädchen für alles des Untergrunds. Naja - für fast alles. Also, was hatte ich schon aus meinem Leben ge-

Auf einmal wurde die Tür aufgerissen und aus dem Augenwinkel sah ich den laut lallenden Mann im Raum stehen.

"Gib mir ein Bier. Aber irgendwas stärkeres."

Ein stärkeres Bier? Ich drehte mich zu dem Mann um, der jetzt auf uns zukam.
Oder eher zutorkelte. Wie viele "stärkere Biere" hatte dieser Typ schon intus?

Als er sich an den Tresen setzen wollte, ging die Tür erneut auf, diesmal allerdings schonend für die Türangeln, und eine junge Frau kam herein. War etwa die Stunde schon um? Ich sah auf meinen Drink, der noch halb voll war. Ich hatte nachgelassen.

Während die Frau ihren Mantel ablegte, füllte sich die "Golden Eye" langsam mit den Menschen, die hinter der Frau durch die Tür kamen. So ungern ich es zugab, aber Mike's Bar war eine der angesagtesten der Stadt.

Ich hatte mich bereits wieder abwesend zu den vielen Spirituosen gedreht, die sich vor mir in der Schrankwand aufreihten, als ich den bereits volltrunkenen Mann sich wieder lautstark vom Tresen entfernen hörte. Er lallte etwas von "geile Schnitte" und "Spaß haben", woraufhin ich zu Mike aufsah. Sein ernster Blick war hinter mich gerichtet, also drehte ich mich um.

Dieser ekelerregende Typ hatte die Frau am Arm gegriffen und brabbelte sie unverständlich zu. Ich konnte die Furcht in ihren Augen sehen.

Niemand schien sich für die Szene zu interessieren, und auch ich zögerte als ich mir wieder Mike's Worte in Erinnerung rief. "Du hast dich mal wieder in etwas eingemischt, das dich nichts angeht."

Ich sollte mir nicht noch mehr Ärger machen, ich hatte heute schließlich schon einmal einstecken müssen.

Doch als dieser Widerling ihr noch näher kam und sie verschreckt zurückwich, stand ich auf.

Sorry, Mike.

One Night Drink >girlxgirl< ᵃᵇᵍᵉˢᶜʰˡᵒˢˢᵉⁿWo Geschichten leben. Entdecke jetzt