Die Sonne ging unter, die Stadt war in ein warmes, orangerotes Herbstlicht getaucht - doch die Nebenstraßen, auf denen sich der Schatten bewegte, waren dunkel und kalt.
Er drückte sich unter den neugierigen Blicken der wenigen Menschen weg und grüßte die Dealer, die sich in den Gassen hielten.
Niemand bemerkte die zweite Gestalt, mit der der Schatten am Ende der Gasse im Schwarzen verschwand.
Man hörte sie flüstern.[J]
"Wo zur Hölle hast du gesteckt?"
Dan war nervös, aufgewühlt. Ich verstand nicht, was sein Problem war. Ich war fünf Minuten zu früh dran. Sein paranoides Getue ging mir schon immer auf die Nerven.
"Du bist Dieb, kein Waffenschieber. Niemanden interessiert es, ob du etwas gesehen hast, also spinn' nicht rum.", gab ich zurück.
Er zischte und seine Anspannung löste sich ein wenig, er baute sich mit seiner beachtlichen Größe vor mir auf, doch um mich einzuschüchtern kannte ich ihn zu gut.
Er war ein harmloser Taschendieb, der kaum über die Runden kam seit er angefangen hatte, sich Heroin zu spritzen. Ich erkannte sein Gesicht nicht, doch ich wusste, er musste schlecht aussehen. Seine Stimme klang belegt und schwach, seine Bewegungen waren schwankend, sein Atem ging schwer."Ich glaube ich habe den Mann gesehen, nach dem du suchst. Er rannte mit Waffe in der Hand die Straße runter und fluchte etwas von einem 'verdammten Mädchen'."
Das ist er. Er hat Nina verfolgt.
Meine Hand ballte sich unwillkürlich zur Faust bei dem Gedanken an Nina und wie dieser Mistkerl ihre Welt zerstört hatte.
Ich würde ihn finden."Jo?", fragte Dan mich plötzlich nervös und holte mich damit in die Realität zurück.
"Wo..."
"W-Was?"
"Wo du ihn gesehen hast!"
Ich erschrak, wie laut ich war. Niemand musste uns hören.
Dan schluckte schwer - hatte ich ihm etwa Angst gemacht?
Egal. Er könnte langsam mal ein bisschen selbstsicherer werden, bei seiner Statur müsste er derjenige sein, der anderen Angst macht. Stattdessen verkroch er sich stets im nächsten Loch, wenn er etwas hörte oder sah, wie eine Ratte.Dafür lebt er von euch beiden wahrscheinlich am längsten., ließ mich meine innere Stimme wissen.
Ich schüttelte den Kopf und mein Tunnelblick auf den Mörder von Ninas Familie kehrte zurück.
"Führ' mich hin."
[D]
War das wirklich Jo? Sie wirkte gereizt, viel angespannter als sonst.
Was wollte sie denn von diesem verdammten Typen? Mann, ich wollte hier weg, die Gassen waren von zischenden Stimmen und zwielichtigen Gestalten gefüllt, die man in der Schwärze der Nacht lediglich als angsteinflößende Schatten wahrnahm, vor denen ich mich gern fernhielt. Aber nein - Jo zitiert mich natürlich hierher, ohne plausiblen Grund, und zwang mich, die beste Diebeszeit des Tages mit ihr zu verplämpern!
... Naja es wäre die beste Zeit des Tages für Diebstähle, wenn ich denn bereit wäre, jemanden zu bedrohen.
Da ich das aber nicht konnte - und ich hasste mich selbst dafür - stahl ich nur in Menschengruppen unbemerkt Handtaschen und Handys und verkaufte sie dann nachts, um mich dann morgens zuzudröhnen.
Mann, bist du erbärmlich."K-Komm.", meinte ich geistesabwesend. Wieder stotterte ich.
Hast Angst vor einer Frau. Erbärmlich.Ich führte sie durch zwei weitere Gassen, mied die Hauptstraße, bis wir schließlich an einer schlecht beleuchteten Sackgasse ankamen. Hier hatte ich eine Frau rennen sehen, verfolgt von einer weiteren Gestalt.
Jo sah sich aufgeweckt um, bevor sie fragte: "Hast du sonst etwas gesehen... oder gehört?"
Ich überlegte... Da war doch noch etwas.
"A-Auf das Fluchen folgte ein Klacken... und ein weiterer Fluch. Dann lief der hier ein paarmal rum und zog dann ab."
"Er lief rum... Er suchte!", rief sie, was mich zusammenzucken ließ, weil sie doch leise sein sollte. Dann lief sie los, und ich folgte ihr in die Gegenüberliegende Gasse hinein.
Nachdem sie sich eine Weile umgesehen hatte, hob sie schließlich etwas auf - nicht, bevor sie sich nicht ihren Schal um die Hand gebunden hatte.
"Was ist das?" Ich war neugierig, aber in dem schwachen Licht konnte ich nichts erkennen - außerdem wollte ich so schnell wie möglich wieder aus dieser verdammten Gasse raus.
Angst im Dunkeln? Als Dieb? Als Abschaum der Gesellschaft?
Erbärmlich.
Wir traten unter die flackernde Laterne am Straßenrand.Jo hielt eine Pistole in der Hand.
"Aber wie-... wieso hat er die dann da gelassen?", wollte ich wissen. Ich verstand gar nichts, doch Jo lachte freudlos.
"Der Schwachkopf hat sie aus Wut weggehauen, und sie dann nicht mehr gefunden. Er muss wirklich dumm sein, haha." Ihr Lachen klang in keinster Weise belustigt, eher verletzt und... leer.
Im nächsten Moment, bevor ich etwas hätte sagen können, zog sie ihr Handy hervor und wählte eine Nummer.
"Rick? Golden Eye. Gleich."
°*°*°*°
Handy gegen Geld.
Geld gegen Drogen.
Ich saß in der Gasse, in der ich zuvor mit Jo gestanden hatte, drückte mich an die Wand und legte meinen Arm frei, band ihn ab. Das Gezische um mich herum, die Stimmen, das Flüstern, die Schwärze der Nacht und die Dunkelheit dieser Stadt machten mir Angst.
Ich zog die Spritze auf. Gleich würde die Angst betäubt.
Die Einsamkeit, die mich nach meinem Trip begrüßen würde, machte mir Angst.
Ich zog die Spritze weiter auf.Die Freudlosigkeit, die ich für mich erbärmlichen Taschendieb in der Zukunft sah, machte mir Angst.
Die Spritze war am Anschlag.Ich setzte an meinem Arm an, gab mir den Schuss.
Die Spritze, genauso alt und dreckig wie der Beton, auf dem ich saß, war voll, die Drogen leer.
Mein Blick war Gold.
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One Night Drink >girlxgirl< ᵃᵇᵍᵉˢᶜʰˡᵒˢˢᵉⁿ
Misterio / SuspensoIn einer angesagten Bar treffen zwei junge Frauen aufeinander. Jo, eine Kleinkriminelle mit starkem Gerechtigkeitssinn - und Nina, ein schüchternes Mädchen mit verborgenem zweiten Gesicht. Was die beiden aneinander anzieht, wissen sie nicht. Was vor...