(10) Gedanken

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[N]

Zehn Minuten später saß ich, wie am Abend zuvor, auf ihrem gemütlichen Ledersofa, eine heiße Tasse des perfekten Pfefferminztees in beiden Händen, und fühlte mich doch unbehaglich.
Ich würde ihr davon erzählen, von dem Abend, dem Tod meiner Eltern, ihm.

Würde ich? Was zwang mich dazu, es ihr zu sagen? Ich musste es nicht. Ich könnte jetzt einfach schweigend gehen, sie würde keine Fragen stellen. Ich könnte ihn weiter suchen, weiter fliehen, vor der Polizei und allem anderen. Doch...
Etwas in mir wollte es ihr sagen. Etwas in mir wollte mit ihr sprechen, es erzählen, die Last teilen, eine Verbündete finden.

Etwas in mir vertraute ihr.

Ein Vertrauen, dass ich nicht verstand. Ich betrachtete sie von hinten, wie sie sich selbst gerade eine Tasse Kaffee aufbrühte. Ich mochte keinen Kaffee, aber der Duft war dennoch beruhigend. Ich starrte sie an. Was an ihr war so vertrauensvoll? Was an ihr ließ mich mich ihr öffnen, es ihr erzählen wollen, obwohl wir uns erst seit ein paar Stunden kannten?

Sie kam auf mich zu und ich schob alle Zweifel beiseite. Ich musste es jemandem erzählen, mein Leid mit jemandem teilen, mit jemandem darüber sprechen.
Sie setzte sich, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und blickte mich geduldig an.

Ich atmete tief ein.

°*°*°*°

[J]

Sie atmete tief ein, als sammelte sie ihre Gedanken. Ich ließ ihr Zeit.
Was auch immer ihr geschehen war, und ihren Eltern, es war grausam und traumatisch. Sie hatte viel durchgemacht, den Tod ihrer Eltern miterlebt, eine Flucht vor der Polizei hinter sich. Und eine Flucht vor ihm.

Wer auch immer er war, er war die Wurzel allen Übels. Ihre Eltern wurden von ihm umgebracht, und statt ihr zu helfen damit umzugehen und den wahren Mörder zu jagen, wurde sie von den Behörden als Verbrecherin abgestempelt.
Ich musste wissen, was passiert war, und warum ihr niemand glauben wollte.

Sie schien sich genauestens überlegt zu haben, was sie als nächstes sagen würde, als sie anfing.

"Es war ein ganz normaler Abend. Ich aß mit meinen Eltern gemeinsam, bevor ich nach oben in mein Zimmer ging. Ein/zwei Stunden später hörte ich einen Schuss und den Schrei meiner Mutter."

Sie redete ruhig und bedacht, aber ich konnte mir vorstellen, wie schmerzhaft es für sie sein musste, den Abend noch einmal Revue passieren zu lassen. Ich hätte gerne einen Arm um sie gelegt, wenigstens meine Hand auf ihre Schulter - aber ich ließ sie in Ruhe. Ich wusste, sie musste es mir von sich aus, ohne Druck und ohne Hilfe, erzählen, um damit fertig zu werden.
Also wartete ich darauf, dass sie weiter sprach.

"Ich wusste nicht, wer er war oder woher er kam", fuhr sie mit zittriger Stimme fort. "Doch ich sah meinen Vater blutverschmiert in der Eingangshalle liegen, meine Mutter über ihm brach nach einem zweiten Schuss ebenfalls zusammen.
Vor meinen Augen."

Der letzte Satz war kaum hörbar, zittrig und unterdrückt. Ich hatte schon viel auf der Straße gesehen, doch nie hatte ein Mensch mir gegenüber so viel Leid in seinem Gesicht gezeigt wie diese viel zu junge Frau.

Sie schloss ihre Augen und schüttelte dann langsam den Kopf. Ich stellte mir vor, wie sich dieser schreckliche Abend in ihrem Kopf noch einmal abspielte, wie sie schrie, wie sie lief, doch sie fasste sich wieder.
Sie war stark.

"Er schoss auch auf mich, als er mich sah. Es ging so schnell, dass ich nicht einmal sein Gesicht sah, da war ich schon von der Treppe gesprungen und durch die Küche zum Hinterausgang hinaus, nur meinen Mantel und die Stiefel konnte ich mir noch schnappen."

Ich musterte sie abermals. Wie hatte sie in einer solchen Situation so geistesgegenwärtig reagieren können?

"Er folgte mir, ich lief. Ich weiß nicht mehr, wie lange oder wohin, doch ich lief, bis ich in der Dämmerung zusammenbrach. Dann sah ich die Meldung über mich in dem Schaufenster eines Geschäfts im Fernsehen laufen. Wo hätte ich den hin gesollt? Ich streifte in ständiger Angst vor ihm durch die Straßen.
Bis in die Golden Eye."

Sie schaute zu mir auf, als würde sie mein Gesicht lesen wollen. Als würde sie deuten wollen, was ich empfand, ob ich ihr glaubte, was ich von ihr hielt.
Ich hatte das Gefühl, sie hätte mir nicht alles erzählt. Das alles wirkte nur wie ein Rahmen, wie eine Abfolge zusammenhangloser Ereignisse, ohne verbindenden Grund.

Doch ich beließ es dabei und schüttelte nur den Kopf.
Eines stand fest: Ich musste ihr helfen.

Und ich wusste auch schon, wie.

×××××

Ja, so viel länger sind die Kapitel nicht geworden, Verzeihung.
Aber ich habe in letzter Zeit einfach kaum Zeit zum Schreiben, und so schlau, vor der Veröffentlichung des
ersten Kapitels bereits weitere in der Hinterhand zu haben, war ich auch nicht. Schließlich entstand diese Story lediglich aus der Lust heraus, eine GL Geschichte zu schreiben...

Wie auch immer - ich gebe mir weiterhin Mühe, wenigstens ein Kapitel in der Woche zu schreiben.

PS: Konstruktive Kritik, Vorschläge und sonstiges einfach in die Kommentare, danke. :]

One Night Drink >girlxgirl< ᵃᵇᵍᵉˢᶜʰˡᵒˢˢᵉⁿWo Geschichten leben. Entdecke jetzt