Kapitel 1

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„Verdammt, hab ich 'n Schädel", brummt eine tiefe Stimme durch die Tür. Ich schlage die Augen auf und reibe verschlafen etwas darin herum, damit die Lider auch ohne weitere Gewalt getrennt bleiben.
„Hast ja wieder nicht auf mich hören wollen, als ich dir gesagt hab, dass es genug ist", kommentiere ich.
„Jaja Klappe", murrt es noch, bevor es im Bad verschwindet. Vorsichtig setzte ich mich auf, denn ich bin noch nicht sicher, ob nicht auch bei mir gleich eine Karusellfahrt startet, und begutachte mich und meine Umgebung.
Die Couch, auf der ich schlief, ist weniger in Mitleidenschaft gezogen als bei der letzten Party. Zwar liegen Chipskrümel und anderes Essbares auf ihr genauso herum wie im Rest des Zimmers, doch von Brandlöchern und Flecken aller vorstellbaren Flüssigkeiten scheint sie verschont zu sein. Stolz klopfe ich mir auf die Schulter. Scheinbar haben wir es tatsächlich geschafft, alle Raucher in den Garten zu schicken, und die Leute nicht bis zum Erbrechen abzufüllen.

Die Erfahrung hat mir gezeigt, worauf außerdem zu achten ist. Ganz wichtig an erster Stelle: Glasscherben. Detektivisch und bewegungslos lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen, um kaputte Gläser zu entdecken, doch auch hiervon finden sich glücklicherweise keine.
Zweitens: Andere Menschen. Neben mir auf der Couch schnarcht ein Junge um die zwanzig. Seine ausgesprochen kurze Hose war halb geöffnet, während er sich das weiße Shirt unter den Kopf gelegt hat. Wieso geht man nochmal mit weißer Kleidung auf Partys?
„Oh Gott Lucas, was hast du nur wieder angestellt", murmele ich kopfschüttelnd.

Auf einer kurzen Runde durch das Erdgeschoss entdecke ich aus außerdem Lina und Jan, die eng umschlungen und spärlich bekleidet im Gästezimmer liegen, sowie einen mir völlig unbekannten Jungen, der gerade auf den Gartenpolstern der Terrasse erwacht und mich schelmisch angrinst.
Ich schätze, ich werde ihn wohl gestern irgendwann einmal geküsst haben, und zwinkere zurück.

Aus dem Obergeschoss vernehme ich zusätzlich noch mindestens zwei Stimmen, während im Pool zwischen einigen Plastikbechern ein Mädchen auf der Luftmatratze treibt.

„Sieht doch ganz okay aus", meint Tony, der gerade aus dem Badezimmer zurückkommt. Ich nicke zustimmend und freue mich sofort, dass ich mich deshalb nicht am Türrahmen festhalten muss.
„Jaja, ich seh's ja ein, du bist vernünftiger als ich. Aber dafür hast du auch weniger Spaß", knurrt mein bester Freund und ich kichere.
„Da kennst du mich aber schlecht", erwidere ich und gehe etwas näher an ihm vorbei, als es nötig gewesen wäre.

Nachdem ich mich einer Grundreinigung unterzogen und frische, nicht stinkende Kleidung aus dem Schrank geholt habe, mache ich mich langsam daran, ein wenig aufzuräumen. Eigentlich wohne ich nicht hier, aber irgendwie bin ich doch so oft da, dass mir Tony irgendwann entnervt eine eigene Schublade in seinem Kleiderschrank zugestanden hat.

„Helfen oder Verschwinden", meckere ich das Mädchen vom Pool an, die mir seit einigen Minuten interessiert bei der Arbeit zusieht. Ich meine es nicht böse, aber mit verkaterten und verschlafenen Gästen muss man ein wenig klarer sprechen als mit normalen Menschen.
„Jaja sorry", mault sie und beginnt, willkürlich Gegenstände von einer Ecke des Raumes in eine andere zu tragen.
„Die Gläser in die Küche, den Müll in den Müll", erkläre ich das Prinzip von Aufräumen, woraufhin sie irgendwas von „Müll is' voll" nuschelt.
„Mülltüten sind in der Küche", lache ich. Der Tag nach der Party ist manchmal nicht minder lustig, als die Party an sich – wenn auch auf völlig andere Art.

Etwas irritiert schaue ich Tony hinterher, der gerade mit einem Eimer Wasser das Wohnzimmer durchquert – natürlich nicht, ohne solche Mengen zu verschütten, dass ich den Erfolg seines Vorhabens (wie auch immer dieses geartet sein mag) aufgrund mangelnder Flüssigkeit anzweifele.
Gerade noch rechtzeitig fange ich das Weinglas wieder auf, welches sich während meiner leichten Geistesabwesenheit leider nicht selbstständig am Regal festgehalten hat. Warum genau besitzen wir – also Tony – überhaupt Weingläser? Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas anderes als Bier oder Hochprozentiges im Haus gesehen zu haben.
Ein gellender, unmännlicher Schrei unterbricht das Vogelgezwitscher des Samstagmorgens. Behutsam stelle ich das Glas ab und bedeute ihm eindringlich stehen zu bleiben, bevor ich nach draußen sehe. Eine Pfütze auf der Terrasse und ein schlanker Junge mit nassen Haaren lassen mich glucksen. Man muss sich ja auch nicht auf dem Silbertablett servieren, wenn man schon nicht aufstehen will. Wo kommt der eigentlich her; ich habe ihn vorhin wohl übersehen...
„Wo nimmst du nur immer diese Motivation her?", brummt Tony.
„Aus den Leuten, die erst das ganze Wohnzimmer unter Wasser setzen", erkläre ich kichernd, „und sich dann darüber aufregen, dass es nass ist."

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Vier Stunden vor Viktor wird Lennard wie jeden Morgen vom Wecker aus dem Schlaf gerissen. Er ist immer der Erste, der aufsteht und nicht selten der Letzte, der schlafen geht – und das sieht man ihm auch an. Seine raue Haut ist von der Sonne selbst im Sommer nur ein bisschen gebräunt, die einzige Farbe stellen einige blaue oder grünliche Flecken dar. Die Ringe um seine grauen Augen sind zwar nicht wirklich auffällig, sagen aber mehr aus, als Lennard lieb ist.

Eilig drückt er auf dem Wecker herum bis dieser endlich still ist, damit auch ja niemand davon wach wird. Leicht fröstelnd schlägt er die Decke zurück; es ist ein recht kühler Morgen für die Jahreszeit. Auf Zehenspitzen tänzelt Lennard über das Parkett zum Kleiderschrank, aus dem er wahllos eines der unterschiedlich grauen Shirts, Unterwäsche und die etwas zu kleine Jeans zieht. Die Passende ist besonderen Tagen und Feierlichkeiten vorbehalten, während die Andere, noch etwas kleinere, noch auf dem Trockner verweilt.

Mit der Kleidung auf dem Arm schleicht er durch den spärlich vom Sonnenlicht erhellten Flur in den Nachbarraum. Dort liegen in einem metallenen Bett, das eigentlich viel zu klein ist um sich Doppelbett zu schimpfen, zwei Kinder. Die Decke ist irgendwie zwischen den zierlichen Körpern verknotet, die selbst alles andere als geordnet auf der Matratze liegen. Einer der Zwillinge hat sein Kissen unter dem Kopf hervorgezogen und eng umschlungen, während der andere das gemeinsame Kuscheltier im Arm hält. Schon lange will Lennard ihnen noch ein Zweites kaufen, aber sein Taschengeld reicht kaum für Essen, Kleidung und Schulmaterial.
So richtig passt das alles nicht zum kunstvollen Stuck an der Decke, zu dem riesigen gehegten Garten, dessen Wiese trotz des trockenen Sommers förmlich durch das Fenster hineinleuchtet, und erst recht nicht zu den vergoldeten Türklinken.

Lennard reißt sich vom friedlichen Anblick seiner zehnjährigen Brüder los und rüttelt Thomas (wobei Lennard ihn lieber Tom oder Tommy nennt) sanft an der Schulter. Verschlafen reibt er sich die Augen, streckt sich etwas im Bett und lächelt seinen großen Bruder an. Wie jeden Morgen lächelt Lennard herzerwärmt zurück und legt einen Finger an die Lippen. Wie jeden Morgen wendet er sich zum Gehen und schaut an der Tür doch noch einmal zurück, dass der Kleine auch ja die Augen nicht wieder schließt. Wie jeden Morgen wird Tom seinen drei Minuten jüngeren Bruder Immanuel (wobei auch dieser von seinen Brüdern lieber nur Manuel oder Manu genannt wird) mehr oder weniger sanft wecken, und wie jeden Morgen haben die beiden noch ein paar Minuten zum wach werden, bis Lennard im Bad fertig ist.

Dort betrachtet er sich selbst ein paar Sekunden lang im Spiegel. Ihn interessieren nicht das kantige Kinn, die kleinen Sommersprossen, die kalten Augen, auf die in seiner Schule so manches Mädchen steht; er freut sich nur, dass er im Gegensatz zu den meisten immer noch nur kleine blonde Härchen an seinem Kinn entdecken kann – denn Rasierzeug könnte er sich beim besten Willen nicht auch noch leisten.
Versorgt mit einer Ladung kaltem Wasser und ein bisschen vom billigsten Deo der örtlichen Drogerie kehrt er aus dem Badezimmer zu seinen Brüdern zurück.

Diese sind in der Zwischenzeit tatsächlich mehr wach als schlafend und blicken Lennard wie Hundewelpen aus den größten Augen an, die sie um diese Uhrzeit zustande kriegen.
„Kommst du noch kurz zu uns?", flüstert Tom mit kratziger Morgenstimme und zupft am Hosenbein seines Bruders.
Lennard schaut unruhig auf die Uhr, zu seinen Brüdern, zurück auf die Uhr, wieder zu seinen Brüdern. Eigentlich hat er nicht viel Zeit am Morgen, doch die Zwillinge haben gelernt, wie sie ihren Bruder überreden können. Diesen blau leuchtenden Kinderaugen kann Lennard einfach nichts mehr abschlagen. Er seufzt und lächelt ergeben, als er sich nur für ein paar Minuten zu Tom und Manuel auf die Matratze legt. Sofort schmiegen diese sich, einer links, einer rechts an den warmen Körper ihres Bruders, der sie so gut er kann vor allem beschützt. Das hat sich Lennard geschworen, schon ein paar Monate nachdem sie das Licht der Welt erblickt haben.
Irgendwer muss sie ja schließlich lieben, meint sein Unterbewusstsein. Sanft streichelt er die verletzlichen Kinderkörper in seinen Armen.

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