Kapitel 7

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Ich suche überrascht mein Handy, als es aus dem Wohnzimmer klingeln höre. Wer ruft denn bitte mich an? Und dann auch noch am Sonntag? Beim Frühstück?!
Okay, so abwegig ist das nicht, es kennen genug Jungs meine Nummer, und bisher war ich immer offen für Spontanes.

„Hi", melde ich mich geistreich. Vielleicht hätte ich meinen Namen nennen sollen, schließlich kenne ich nicht einmal die Nummer.
„Hallo, hier ist Lennard", dringt die Stimme meines Kollegen/Freundes/Geliebten/Projektes/Herzverwirrenden aus dem Lautsprecher.
„Ah Lenny, toll von dir zu hören", grinse ich.
Tony grinst auch, bevor der den Kopf schüttelt. Ist es wirklich jetzt schon so peinlich?
„Ja, du hast ja gesagt, ich soll mich melden. Ich habe den Vertrag gelesen und... ich würde gerne weiter bei dir arbeiten", erklärt Lenny ein wenig nervös.
„Bei mir? Das Sakura gehört nicht mir", korrigiere ich und beiße mir auf die Lippe. Schnell ergänze ich: „aber trotzdem ist das natürlich wunderbar. Hast du dir denn auch schon geeignete Tage ausgesucht?"

Unterdessen beobachte ich Tony amüsiert, der in einen handfesten Kampf mit einer Wespe geraten ist. Das Insekt schien sich wohl wiederrechtlich an seinem Frühstück vergangen zu haben, sodass es nun ängstlich dem wild durch die Luft fuchtelnden Tony ausweichen muss.
„Ich habe montags nur bis um zwei Unterricht, das würde sehr gut gehen. Dienstag und Mittwoch kann ich nicht, der Rest ist..."
„dir egal? Okay, dann würd ich dich noch am Donnerstag gut gebrauchen können, da ist nämlich Amelie nicht da. Du kannst dich ja mal ein bisschen einarbeiten, dann kannst du entscheiden, ob du noch mehr willst."
Ohhh verdammt, die Formulierung war nicht so gut.
„Ja? Ist das wirklich in Ordnung?", vergewissert sich Lenny. Anscheinend kann er sich nicht vorstellen, dass es in der Jobwelt so einfach und freundlich zugehen kann. Okay, da ist das Sakura auch eine Ausnahme, wie eine kleine Blüte in der Wüste.

Die Wespe (nennen wir sie Hildegard) scheint derweil beschlossen zu haben, dass Tonys unkoordinierte Angriffstaktik keine Gefahr darstellt, die sie am Essen hindern soll. Dementsprechend versucht sie es erneut am Honig.
„Klar, wie gesagt, bisher mussten wir ohne dich klar kommen. Jeder Tag, an dem du da bist, ist toll. Also ist es auch fast schon egal, wann du kommst."
„Das... das freut mich", stottert Lenny verlegen, „Dann sehen wir uns also morgen?"
„Ja, ich freue mich schon", gebe ich zu und grinse über beide Ohren.
„Okay, ich... ich mich auch", verabschiedet sich Lenny.
Ich will noch etwas Liebevolles sagen, doch er hat schon aufgelegt.

Verdammt, dieser Junge.
Ich bin es nicht gewöhnt, stehen gelassen zu werden, muss ich zugeben. Und er hat es in drei Tagen zwei Mal geschafft.

Tony hat sich derweil die Zeitung besorgt, mit er nun hysterisch nach dem bedauernswerten Fluggetier schlägt. Leider ist Hildegard irgendwann von ihrem Übermut beeinträchtigt und erleidet einen kritischen Treffer. Flugunfähig windet sie sich auf der Tischdecke, sodass Tony weiterhin versucht, ihr Leben auszuhauchen. Mitleidig beobachte ich das Schauspiel. Irgendwie fand ich Hildegard nett. Schließlich stellt Tony den vermeintlichen Tod der Wespe fest und schnipst sie vom Tisch.

Tony lächelt zufrieden.
„Jetzt grins' nicht so blöd", maule ich.
„Musst gerade du sagen", entgegnet mein bester Freund, „Ich freue mich nur, dass du dich endlich mal wieder verliebst."
„Jaja, sicher nicht über deinen Sieg über wehrlose Flügeltierchen. Außerdem verliebe ich mich nicht. Du weißt, dass ich das nicht ausversehen so lange nicht gemacht hab."
„Jaja, schon klar. Aber merkst du denn nicht, wie glücklich du bist, wenn du an diesen Jungen denkst? Und ganz davon abgesehen ist es nicht schlecht, nicht ständig von deinen Blicken ausgezogen zu werden."

Ich schnaube verächtlich, woraufhin Tony kichert.
„Ich werd' dich dran erinnern", meint er noch, bevor er hinein geht.

Hildegard scheint derweil vom Schicksal geküsst, denn tatsächlich rappelt sich das Tier schwerfällig und krabbelt einige Schritte in die Sonne. Sie sortiert ihre lädierten Flügel und biegt Fühler und Beinchen zurecht, bevor die Wespe etwas torkelnd davon flattert.

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Der Montag ist zum Glück einer der Tage, an denen Herr Mayenburg zuhause arbeitet. Deshalb möchte er erst halb neun Uhr aufstehen, sodass Lennard ihn am Morgen nicht trifft.
Frühstück macht er also nur für seine Brüder und sich selbst. Das hat den angenehmen Effekt, dass es viel schneller geht. Das liegt zum einen natürlich an der geringeren Menge, zum anderen aber auch am Gericht an sich – denn Tom und Manuel begnügen sich gerne mit einer Schüssel Cornflakes.

Nach dem fast schon entspannten Frühstück machen sich die drei auf den Weg zur Grundschule von Manuel und Tom. Die Zwillinge sind aus ihrer Klasse meist die ersten auf dem Schulhof, weil Lennard danach noch selbst zu seinem Gymnasium laufen muss.
Da sie alle ja keine Fahrkarte für den Bus haben, müssen sie schon fast eine Stunde vor Schulbeginn zuhause loslaufen.

„Schreibt ihr denn heute irgendwelche Arbeiten?", erkundigt sich Lennard wie jeden Tag.
„Mh...", brummt Tom unwillig in Erwartung des Folgenden.
„Welches Fach denn?", fragt Lennard weiter.
„Mathe", verrät Manuel und kassiert dafür einen Hieb durch Toms Ellenbogen.

Dann erfragt Lennard das Thema und lässt seine Brüder abwechselnd etwas dazu erzählen. Das macht er seit einiger Zeit so, damit die Kleinen möglichst gute Noten schreiben, und damit eine gute Zukunft erreichen. Solange er noch mehr weiß, als seine Geschwister, will er sie auf dem Weg morgens abfragen, vielleicht selbst etwas erzählen. Damit erinnert er sich auch selbst immer mal an etwas längst Vergessenes.

Zum Abschied kniet Lennard sich auf den Schulhof und zieht Manuel und Tom je in einen Arm.
„Viel Glück", wünscht er lächelnd, bevor er seine Brüder entlässt, die gemeinsam zu einem ihrer Freunde rennen, der heute sogar schon vor ihnen da war.
Lennard schaut ihnen noch kurz nach, bevor er eiligen Schrittes davon geht, um selbst pünktlich zum Unterricht zu erscheinen.

Dort verhält es sich wie immer: Lennard spricht nicht viel und fällt nicht auf. Er macht das nicht mit Absicht, aber stören tut es ihn auch nicht. Die Lehrer freuen sich meistens über ihn, denn er macht keinen Ärger und antwortet auf Anfrage oft richtig. Allerdings ist es seit der elften Klasse insgesamt ruhiger geworden in den Kursen.
Heute aber ist Lennard immer mal ein wenig abgelenkt, denn seine Gedanken schweifen schon zum Nachmittag. Er kann gar nicht recht verstehen, wieso er sich so sehr auf diesen Job freut, nimmt es aber mit Achselzucken hin.
Ungeduldig rutscht er auf seinem Stuhl hin und her, was überhaupt nicht seine Art ist. Sonst sitzt er immer stundenlang bewegungslos gerade, schließlich hat man ihm das auch so beigebracht. Glücklicherweise sitzt er alleine auf der ersten Bank, sodass sich kein Sitznachbar daran stört. Ein Lehrer schaut zwar ein wenig verwundert, freut sich aber eher über das neue Leben in seinem sonst so ruhigen Schüler.

Als der Lehrer endlich den letzten Block beendet, stopft Lennard eilig sein Material in den Rucksack und schlüpft schneller als der Wind durch die Tür. So schnell er ohne ins Joggen zu verfallen kann läuft er zum Sakura, wo Viktor bereits auf ihn wartet. Fröhlich grinst dieser ihn an und Lennard lächelt zurück.
Zuerst führt Viktor ihn noch einmal in den Büroraum und klärt noch einige Formalitäten (natürlich nicht, ohne dabei selbst Unmengen an Keksen in sich hineinzustopfen. Auch Lennard bietet er wieder welche an, der dieses Mal auch direkt zugreift). Dann grüßen sie noch schnell Amelie, die wie immer liebevoll, fast wie eine weise Gottheit auf die beiden herablächelt. Sie ist wohl die einzige Person, die herablächeln kann, ohne dabei arrogant zu wirken.

Schließlich besteht Viktor darauf, Lennard bei seiner Schürze zu helfen. Etwas irritiert nimmt dieser das auch einfach so hin und lässt seinen Kollegen die Schleife binden, obwohl er das auch durchaus selbst geschafft hätte. Doch dabei entdeckt Viktor einen der neuen blauen Flecke an Lennards Armen.
„Ich mach Kampfsport. Judo, da passiert das schon mal", erklärt er schulterzuckend. Diese Ausrede ist schon so lange bewährt und funktionierte bisher immer hervorragend. Zwar können sich die meisten kaum vorstellen, dass eine hagere Gestalt wie Lennard gerade Judo erwählen sollte, doch warum sollte man darüber diskutieren?

Aber Viktor tut ihm diesen Gefallen leider nicht.
„Judo? Du? Und dann auch noch am Sonntag?", fragt er, die Stirn in Falten ziehend.
„Ja, wir hatten einen Wettkampf", windet Lennard sich und will nach draußen gehen.
Unschlüssig, ob es Sinn ergibt, noch weiter zu bohren, steht Viktor noch kurz herum wie ein Kaktus in der Wüste, bevor er Lennard folgt.

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