Kapitel 10

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Lenny ist wirklich bezaubernd. Alles an ihm gefällt mir so wunderbar: Wie er läuft, wie er spricht, welche Gesten er nutzt. Ständig drängt es mich, ihn zu berühren und ich kann mich nur schwer daran hindern. Aber ich muss ihm schließlich Zeit geben, nicht jeder ist so schnell wie ich mit den Gefühlen. Eigentlich bin ich auch viel zu schnell, aber was soll man machen...

Doch dann wird Lenny Zusehens nervös.
„Da hinten wohne ich", erklärt er und bleibt bestimmt zweihundert Meter entfernt stehen.
„Oh cool, sieht seeeehr schick aus, was ich von hier sehen kann", sage ich ehrlich, „aber... wieso bleiben wir dann jetzt schon stehen?"
„Naja... Ich soll keinen Besuch mitbringen... Man sieht mich nicht gerne mit Freunden hier", erklärt er verlegen und schaut – wie fast immer – auf den Boden. Ob der wohl besser mit Aufmerksamkeit umgehen kann als Lenny?

„Oh... Das... klingt traurig", stelle ich fest.
„Ist okay", meint Lenny und zuckt die Schultern.
„Okay... dann jetzt aber wirklich bis Donnerstag", verabschiede ich mich schweren Herzens und breite meine Arme aus. Doch ich will, dass Lenny wieder selbst zu mir kommt, schließlich möchte ich ihn nicht zwingen.

Tatsächlich drückt sich der Größere kurz an mich, bevor er zügig davongeht.
Ich sehe ihm noch eine ganze Weile hinterher, doch Lenny dreht sich nicht noch einmal um. Etwas enttäuscht mache auch ich mich auf den Weg zu meiner Wohnung.

Dabei krame ich mein Handy hervor und wähle die Nummer von Nikita.
„Oh hallo Viktor", grüßt dieser mit vielfach deutbarem Ton.
„Hey... Du... Ich rufe eigentlich nur aus Höflichkeit an... Du hast extra deine Nummer dagelassen, da fände ich es gemein, mich einfach gar nicht zu melden... Ja, jetzt hast du auch meine Nummer", erzähle ich ein wenig durcheinander.
„Nur aus Höflichkeit? War ich so schlecht?", hakt Nikita kichernd nach.
„Nein, nein, wirklich nicht. Es war richtig gut mit dir, wirklich... Aber ich hab halt kurz darauf jemanden kennengelernt und... naja, eigentlich wollte ich mich nie wieder verlieben, damit mir solche Abenteuer wie mit dir bleiben, aber man sucht es sich ja nicht aus...", erkläre ich entschuldigend.

„Ach, na dann bin ich ja beruhigt", seufzt Nikita erleichtert, „Und jetzt hast du dich verliebt und willst ihm nicht fremdgehen, obwohl ihr überhaupt nichts habt?"
„Ganz genau", bestätige ich kopfschüttelnd.

„Ah okay, verständlich. Naja, ich wünsch euch alles Gute. Und wenn es nichts wird oder ihr euch für was Unkonventionelles entscheidet, weißt du, wen du anrufen kannst. Ich bin offen", meint Nikita und lacht leise. ‚Was Unkonventionelles'... Der Junge kommt auf Ideen...
„Okay, danke", schließe ich etwas dümmlich. Nach einer kurzen Verabschiedung lege ich auf.
Das war mir wichtig.

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Nach dem Abendessen geht Lennard in das Zimmer seiner Brüder.
„Hey ihr Süßen", grüßt er freundlich, woraufhin die Zwillinge böse knurren. Sie wollen nicht ‚süß' sein, nicht ‚klein', sondern starke, große Jungen, wie sie ihren Bruder für einen halten.
„Habt ihr hoffentlich alle Hausaufgaben gemacht, obwohl ich nicht da war?", fragt er und setzt sich zu ihnen auf den Boden.
„Ja, haben wir", bestätigt Manuel und tauscht einen Blick mit seinem Bruder.
„Wirklich, oder wollt ihr mich nur beruhigen?"
„Wirklich", bekräftigt auch Tom.

Lennard lässt es darauf beruhen und schaut seinen Brüdern noch ein bisschen beim Spielen zu. Es fasziniert ihn immer wieder, wie wenig Kinder brauchen, um glücklich und zufrieden zu sein. Manuel und Tom spielen das gleiche Brettspiel wie gestern, vorgestern und eigentlich fast immer. Lennard wäre es schon lange zu langweilig geworden, aber seine Brüder sind mit dem Eifer des allerersten Males dabei.

Als die Runde vorbei ist, schickt Lennard die Zwillinge ins Badezimmer, um sich für die Nacht fertig zu machen.
Natürlich murren sie darüber, schließlich sind es immer noch Zehnjährige, wenn auch für Lennard die besten Zehnjährigen der Welt.

„Liest du uns noch vor?", betteln sie mit ihren Hundeaugen, als Manuel und Tom wieder in ihrem Zimmer ankommen.
„Wieso sollte ich denn?", hinterfragt Lennard listig. Nicht immer will er seinen Brüdern alles sofort geben, er macht es ihnen sowieso schon zu einfach.
„Weil wir Wir sind und du der beste großer Bruder der Welt bist!", argumentieren sie schlüssig.
„Ich fürchte, dagegen komm ich nicht an", gibt Lennard nach und holt grinsend eines der wenigen Bücher aus dem Schrank. Irgendwann hat er aufgehört zu zählen, wie oft er diese eine Geschichte nun schon vorgelesen hat, und das obwohl es ein dickes Buch ist und sie somit immer mehrere Wochen zum Lesen brauchen.

Lächelnd setzt sich Lennard auf die Bettkante, während Tom und Manuel sich aneinander kuscheln und die Decke ein wenig hochziehen. Lennard hatte ihnen das einmal so vorgeschlagen, als die beiden zum wiederholten Male einfach an ihn geschmiegt eingeschlafen waren und er sich nicht mehr getraut hat, aufzustehen. Diese Nächte zu dritt in einem Bett, das eigentlich für zwei schon zu klein ist, waren nicht gerade erholsam.

Lennard beginnt also mit sanfter Stimme, seinen beiden Brüdern aus ihrem Lieblingsbuch „Theo Boone" vorzulesen. Eigentlich sind sie noch ein bisschen zu jung für eine solche Geschichte, obwohl der ‚Krimi' schon extra für Kinder geschrieben ist. Doch Lennard hält die Zwillinge für ziemlich reif und bisher gab es auch keine Probleme deswegen.

Schon nach ein paar Minuten sind Tom die Augen zugefallen, Manuel braucht auch nicht mehr als eine weitere Seite zum Einschlafen. Lennard schlägt das Buch zu.
Erfüllt bewundert er die Kinder, wie sie so friedlich schlafen. Wie er seine Brüder doch liebt.

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