Kapitel 15

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Weil ein bestimmter toller Mensch sich unbedingt noch ein Kapitel gewünscht hat ^^

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„Hab keine Angst. Mach einfach, was du für richtig hältst. Ich kenne das alles nicht, aber ich muss und will es doch kennenlernen! Ich will nicht beschützt werden, Viktor, das wurde ich nie. Bis jetzt habe ich~", erwidert Lenny, doch ich unterbreche ihn, indem ich sanft meine Lippen auf seine lege. Sofort beschleunigt sich mein Herzschlag um Welten. An meiner Hand, die ich auf Lennys Brust gelegt habe, spüre ich, dass auch er sehr aufgeregt ist. Geduldig warte ich, bis Lenny die Situation ganz realisiert hat und weiß, ob er das hier will und schön findet.

Innerlich jubele ich vor Freude, als ich einen vorsichtigen Gegendruck an meinen Lippen spüre. Unweigerlich grinse ich in den Kuss und schließe meine Augen. Es ist einer dieser Momente, in denen die Raumzeit aus den Fugen gerät, denn es fühlte sich an wie Stunden, aber gleichzeitig auch nur wie Millisekunden, in denen wir uns küssten. Da ist es wieder, das subjektbezogene Zeit-Relations-Paradox.

Diese Küsse waren vermutlich die schönsten, aber auch unschuldigsten die ich jemals hatte. Dabei streichele ich abwechselnd Lennys Wange, Haare oder Seite, was er nach einiger Zeit auch erwidert. Ich glaube, im Himmel zu sein, als seine etwas raue Hand vorsichtig und vor Aufregung leicht zitternd mein Gesicht berührt. Mein Blut scheint sich unterdessen langsam in Magma zu verwandeln, so verrückt macht mich diese wunderschöne Situation.

Irgendwann trennen wir uns schließlich voneinander.

„Deine Augen sind wunderschön", stelle ich ehrlich fest, als Lenny den Blickkontakt zulässt. Ich will nicht zu viel interpretieren, aber komme nicht umhin zu bemerken, dass diese Art von Verbindung mit Lenny sehr selten möglich ist. Dementsprechend geehrt und irgendwie auch geliebt fühle ich mich.

„Siehst du? Ich lebe noch", kichert Lenny leise. Grinsend küsse ich ihn ein weiteres Mal, bevor ich schweren Herzens aufstehe.
„Wir müssen leider wirklich los, oder darfst du heute länger draußen bleiben?", erkundige ich mich hoffnungsvoll. Bedauernd schüttelt Lenny den Kopf und erhebt sich ebenfalls.

Wenig später befinden wir uns auf Lennys Heimweg.
Schon etwas länger hat keiner von uns etwas gesprochen. Niemand will etwas Falsches sagen, was diese positive Verbindung schädigen könnte. Doch spüre ich, dass ich meinen Geliebten noch einmal erinnern sollte, was er dringend zu tun hat.

„Lenny... Ich wollte dir noch mal sagen... auch wenn ich damit jetzt irgendwie die Stimmung kaputt mache", beginne ich, während ich entschuldigend unsere Finger verschränke, „wie wichtig es ist, dass du etwas bei dir zuhause änderst."

Lenny seufzt traurig.
„Was soll ich denn machen?"
„Naja... vielleicht reicht es ja, wenn du darüber einmal offen sprichst... Ansonsten... müssten wir... naja... die Polizei verständigen."
„Die Polizei?", fragt Lenny ungläubig, „ich kann doch nicht meine eigene Familie anzeigen!"
„Doch Lenny, das kannst du. Ich weiß, das ist schwer und du brauchst Zeit dafür... Aber was bei dir passiert... das ist... einfach illegal – auch wenn es deine Eltern machen."
„Das geht schon alles", meint Lenny um sich herauszureden.

Wie bitte?
‚Das geht schon alles'? Leide ich jetzt an ‚Dramaturgieorientierter halluzinierender Verschiebung der Realitätswahrnehmung'?

„Schlag mich", fordere ich mit zusammengekniffenen Augen auf.
Verwirrt legt Lenny den Kopf schief.
„Warum sollte ich?"
„Ich weiß nicht, aber es ist doch okay, oder, es geht doch alles? Los, schlag mich!"
Misstrauisch knufft mir Lenny in den Arm, dass ich es gerade so von einer liebevollen Berührung unterscheiden kann.
„Schlag mich richtig! Es soll wehtun."

Etwas unsicher startet er einen weiteren, etwas kräftigeren Versuch.
„Schlagen, nicht streicheln. Los!"
„Nein! Ich will dich nicht schlagen! Warum denn überhaupt?"
„Wie warum denn?"
„Naja, ich habe doch gar keinen Grund! Ich will dir nicht wehtun!"

Ich lächele traurig und bleibe stehen, um einen Finger unter Lennys Kinn zu legen.
„Ganz genau. Wie dein Vater. Der hat auch keinen Grund. Und so wie du mich nicht verletzen willst, so darf er dich nicht verletzen. Bitte Lenny, ich kann es nicht ertragen, wenn ich dich so sehe. Du bist so ein toller, süßer Junge. Ich will nicht, dass du leidest", erkläre ich noch einmal. Zum Ende muss ich mir schon wieder eine Träne verkneifen. Ich werde hier noch zum Springbrunnen...

„Versprich mir, dass du dir das nicht mehr gefallen lässt", fordere ich.

Langsam gehen wir weiter.
„Ich verspreche es", murmelt Lenny schließlich leise und drückt meine Hand.
Weil sie auf offener Straße stehen, tauschen Lennard und Viktor nur einen kurzen Abschiedskuss, doch dieser reicht aus, um das Kribbeln in Lennards Lippen wieder zu erwecken.

Mit diesem und einem gewaltigen Gefühlscocktail geht er den restlichen Weg bis nach Hause. Viktor hat sein Leben innerhalb von ein paar Wochen komplett auf den Kopf gestellt. Er hat ihm gegeben, was er nie erfahren hat, nämlich Liebe. Er hat ihm gezeigt, dass er etwas gegen die Misshandlungen seines Vaters tun muss, was er nie auch nur im Traum getan hätte.

Viktor gibt Lennard eine Sicherheit, eine Geborgenheit, die er noch nie empfunden hat. Gleichzeitig schubst er ihn sanft in Gefilde, in denen er so unsicher ist, wie noch nie zu vor. Das letzte Mal hat er sich gegen seinen Vater gewehrt, als er sechs Jahre alt war. Damals hatte er beim Abtrocknen des Geschirrs eine Tasse fallen lassen, wofür ihn sein Vater bestraft hat. Doch zu dieser Zeit hat Lennard noch geschrien, um sich getreten und für sich selbst gekämpft. Leider war er mit sechs Jahren noch nicht stark genug, um sich gegen seinen Vater durchzusetzen. Dieser schlug auf ihn in einem Ausmaß ein, das Lennard noch nicht erlebt hatte. Er musste sich übergeben, spuckte Blut. Doch das reichte Herr Mayenburg nicht – er wollte seinen Sohn richtig erziehen, damit er keine Dummheiten mehr macht. Mit voller Absicht brach er ihm einen Finger, der unbehandelt schief zusammenwuchs. Auf den am Boden flehenden Lennard trat er solange ein, bis dieser keinen Laut mehr von sich gab.

Das war der Tag, an dem sich Lennards Körper entscheiden musste zwischen dem Tod oder dem Tod der Persönlichkeit. Er entschied sich für die Persönlichkeit. So teilte sich Lennards Persönlichkeit in drei Teile: den traumatisierten Jungen Lennard, das sechsjährige ich von Lennard, das seitdem in diesem Zustand ist und nur selten hervortritt, und eine dritte, selbstbewusste Person, die immer gekämpft hatte. Doch diese letzte Person verschwand bald vollständig.

Seit diesem Tag hat sich Lennard nie wieder gewehrt. Herr Mayenburg hat es geschafft, sich einen gefügigen und devoten Jungen heranzuziehen, der auf jedes Wort hört und seine Bedürfnisse ignorierte.

Und nun kommt plötzlich Viktor in Lennards Leben gepurzelt. Eine außergewöhnliche Person, die sich um ihn sorgt, ihm helfen will. Auf einmal soll er sich wehren – völlig unvorstellbar für Lennard, der sich ja auch nicht erinnern kann, jemals Widerstand geleistet zu haben, da dieser Persönlichkeitsteil erloschen ist wie ein alter Vulkan.

Doch all dies müsste Lennard erst eine erfahrene Ärztin erklären, damit er sich darüber den Kopf zerbrechen könnte. Also lässt er sich glücklich von seinen Geschwistern in Empfang nehmen, bevor er gemeinsam mit diesen das Abendessen zubereitet. Während er Paprika und Gurken schneidet, denkt er immer wieder an Viktors liebevolle Küsse, aber auch an seinen Vater. Wie sollte er ihm nur verständlich machen, dass seine Gewalt nicht in Ordnung ist? Ihm zeigen, dass er mehr wert ist als geschlagen zu werden?

Verwundert über die ungewöhnliche Schweigsamkeit ihres Bruders tauschen Manuel und Tom vielsagende Blicke, doch sie beschließen, ihn nicht darauf anzusprechen. So richten sie in perfekter Teamarbeit zu dritt ein Abendessen an – nicht weiter schwierig, schließlich machen sie das oft so.

Nach dem gemeinsamen Essen, das an seiner eigenen Stille zu erfrieren drohte (‚reziprok thermodynamisch adaptierte Selbstinduktion emotionaler und sozialstruktureller Subjekte', wie Viktor es nennen würde) geht Lennard in den Garten, um die Blumen zu gießen. Leise flucht er, denn die Brause ist nach wie vor nicht dicht. Vor Wochen schon hat er das angemerkt und um eine neue gebeten, doch natürlich wurden seine Bitten nicht erhört. So wässert er wieder mal nicht nur die Rosen sondern auch seine eigenen Füße. Unweigerlich lächelt Lennard, als er leise seine Brüder im Wohnzimmer raufen hört. Was würde er nur geben, damit sie in einem friedlicheren Haushalt aufwachsen könnten. Zwar wurden sie von Herr Mayenburg immer verschont, dennoch würde Lennard ihnen gerne ein großes Bett geben, ein paar Spielzeuge, passende Kleidung, etwas Geld, damit sie sich vielleicht ein Eis kaufen können – oder im Sakura Kuchen essen. Bei diesem Gedanken kichert er ein wenig. Die Vorstellung von seinen Brüdern, die sich alleine in ein Café setzen ist für Lennard so unpassend wie ein Pferd in der Hundehütte.

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