Verdammt, ich hätte es nicht tun dürfen. Ich hätte ihm mehr Zeit geben müssen.
„Ich schätze mal, das machen Freunde auch?", fragt Lenny mit deutlich sarkastischem Ton.„Ähm... Auch", weiche ich schnell aus und lasse seine Hand wieder los. Ich bin so ein Idiot! Nicht einmal zwei Wochen Zeit habe ich ihm gelassen, sich an meine Existenz zu gewöhnen – Nein, ich muss mich natürlich gleich wieder aufzwingen und alles kaputt machen, bevor es überhaupt angefangen hat.
„Tut mir Leid Lenny, ich wollte dich nicht überrennen", flüstere ich. Eigentlich war es gar nicht mein Plan zu flüstern, aber irgendwie hat sich der Ton nicht richtig aufgebaut.
„Schon okay", beschwichtigt er schnell, doch glauben kann man das natürlich nicht. ‚Schon okay' oder ‚ganz gut' sagen alle, egal wie es ihnen geht.
„Wir sind da", teilt Lenny wenig später mit. Wieder stehen wir auf dem Gehweg weit vom Haus selbst entfernt. Warum lässt er sich nur so einsperren?! Ich würde wahnsinnig werden an seiner Stelle.Hoffnungsvoll blicke ich zu meinem offiziell neuen Freund. Doch dieser winkt nur und geht mit einem kurzen Abschiedsgruß. Ich werde ihn wohl nie verstehen.
Von nun an vergeht die Zeit wie im Flug.
Wobei, eigentlich nicht. Sie verstreicht quälend langsam, doch insgesamt irgendwie unfassbar schnell. Minuten kommen mir vor wie Stunden, aber Wochen erscheinen mir als Tage. Dieser Teil fehlt eindeutig in der Relativitätstheorie. Vielleicht sollte ich das mal wissenschaftlich formulieren und festhalten.‚Subjektive Zeitrelativität'?
‚Geschwindigkeit von Raumzeit in subjektiver Relation'?
‚Paradoxon der Relation wirklicher und subjektiver Zeit'?
Nein, das ist falsch, es gibt keine wirkliche Zeit.
‚Subjektbezogenes Zeitrelations-Paradox'?Das klingt gut. Vielleicht lässt sich darauf ein Patent anmelden?
Jedes Mal gehe ich mit Vorfreude, aber auch mit Angst ins Café. Lenny verhält sich wie immer: professionell. Einen Einbruch wie durch Winnie hat er zum Glück nicht noch einmal, und sonst entwickelt sich zwischen uns tatsächlich so etwas wie Freundschaft. Immer wieder schelte ich mich selbst, weil ich das Bedürfnis habe, ihn irgendwie zu berühren. Manchmal streiche ich ihm dann durch die Haare oder lege einen Arm um ihn. Darauf schaut er mich dann verwirrt an. Natürlich ist er nicht dumm. Natürlich weiß er, dass das nicht so richtig freundschaftlich ist.
Im Sakura wächst er schnell zu einem vollwertigen Kollegen heran. Das Verhältnis zwischen ‚Lehrer' und ‚Schüler' verschwindet und wir alle arbeiten auf gleicher Ebene. Das Arbeitsklima – wenn man es denn so nennen kann – ist wirklich hervorragend. Und Amelie ist froh, auch mal wieder etwas mehr zu den Gästen zu kommen, wenn Lenny ihr den Part in der Küche abnimmt. Ich habe nämlich mit Backen nicht die besten Erfahrungen gemacht und überlasse das lieber den anderen. Ein Feuerwehreinsatz in der Innenstadt reicht für mein Leben. Deshalb war Amelie, seitdem Natalie uns verlassen hat, nahezu alleine in der Küche und dementsprechend oft dort.
Amelie freut sich auch über Lenny. Auch wenn sie ihre Mutterrolle nicht ganz zurückhalten kann, so ist sie doch hauptsächlich Kollegin und irgendwie auch Freundin von ihm geworden.Irgendwie habe ich es auch geschafft, ihn fast jedes Mal nach Hause zu bringen. Es kommt mir so vor, als würde er mir vertrauen, mich auch irgendwie mögen. Zumindest scheint es ihn nicht zu stören, dass ich ihn begleite. Manchmal hat Lenny auch ein bisschen von zuhause erzählt. Er scheint unglaublich fleißig zu sein, schmeißt den ganzen Haushalt im Prinzip alleine. Ich weiß nicht so wirklich ob ich das gut finde. Auch wenn es mir nicht so ganz behagt, habe ich davon auch Amelie erzählt. Von Anfang an hat sie sich Sorgen um Lenny gemacht und das ist bei dem Vorfall mit Eleanors Hund natürlich nicht besser geworden.
Verzweifelt habe ich ihr auch berichtet, dass er nie aus dem Haus darf und ich mich eigentlich gerne einmal mit ihm treffen würde, fern vom Café. Natürlich hat sie mich warnend angesehen. Aber trotzdem sollte ich doch zu ihr kommen, wenn ich mir sicher wäre, dass er das auch wöllte, sie fände schon eine Möglichkeit.
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Auch an diesem Tag wird Lennard wieder auf dem Weg nach Hause von Viktor begleitet. Tatsächlich gefällt ihm das Interesse, das der Ältere an ihm zeigt. Zwar kann er dieses nicht wirklich einordnen, doch wird er liebevoll behandelt. Das hatte er bis jetzt eher selten erlebt.
„Lenny?". fragt Viktor mit leicht zitternder Stimme.
Angesprochener wundert sich, warum Viktor so nervös zu sein scheint, ist doch alles wie immer.
„Ja?"
„Du... ich weiß das war letztens etwas vorschnell von mir... Sorry nochmal deswegen... Darf ich vielleicht deine Hand halten?", stottert Viktor verlegen und beißt sich auf die Lippe. So ein ängstliches, Geeier ist er von sich nicht gewöhnt.Lennard nickt einfach nur, denn er weiß darauf nichts zu entgegnen. Auch ihm schlägt das Herz höher, als Viktor ihre Finger verschränkt. Eine Weile gehen sie einfach so nebeneinander her, während sich zumindest Viktors Herzschlag langsam ein wenig beruhigt.
Er betet zu Gott, Jahve, dem fliegenden Spaghettimonster und allen anderen gottähnlichen Kreaturen, die ihm gerade einfallen, dass das auch für Lennard schön ist.
„Das... hab ich noch nie Freunde machen sehen", gesteht Lennard nach einiger Zeit.
„Ich auch nicht", gibt Viktor mit zusammengebissenen Zähnen zu. Und schon ist der Puls unter 130 dahin.
„Das heißt, dass du von mir... mehr als Freundschaft willst?", rät Lennard.
„Ja, Lenny. Schon lange. Aber ich wollte dich nicht überfordern. Ich hab Angst etwas falsch zu machen. Du bist so verletzlich... Ich liebe dich, Lenny."
Lennard weiß darauf nichts zu antworten, aber in seinem Kopf dreht sich alles im Kreis. Irgendwie hatte er es ja geahnt, dennoch erreicht ihn diese Information so unerwartet. Jemand soll Gefühle für ihn haben? Ihn tatsächlich richtig mögen, nachgerade lieben? Und was soll er denn dazu empfinden? Liebt er Viktor auch? Woran merkt man das? Sind sie jetzt zusammen?
„Sag bitte was", flüstert Viktor und drückt Lennards Hand ein wenig fester. Immer noch laufen sie gemeinsam in Richtung von Lennard Haus. Das fühlt sich zwar surreal an, aber irgendwie bringt es auch Beruhigung.
„Was denn?"
„Na... ob du das gut findest, was du fühlst."
„Wie fühlt er sich denn an jemanden zu lieben? Ich weiß nicht, ob ich dich liebe. Ich habe noch niemanden geliebt."
Nun schweigt auch Viktor, denn er weiß nicht recht, wie er das erklären soll.„Naja... Du magst diese Person. Sehr. Mehr als alle anderen, die du kennst. Du willst jede Sekunde bei ihr sein. Das Letzte, woran du abends denkst, ist dieser eine Mensch, und das erste nach dem Aufwachen auch. Du genießt die Nähe, die Wärme. Du willst berührt werden, geküsst werden. Dein Herz schlägt schneller, wenn du in der Nähe von dieser Person bist. Das ist das klassische, romantische Bild von Liebe."
„Aber... Ich kann doch nicht in meine Brüder verliebt sein?!", ruft Lennard erschrocken.
Viktor lacht nur und erklärt: „Nein, aber es ist doch toll wenn du deine Brüder liebst. Geschwisterliebe. Und wenn du bis jetzt noch niemand anderen hattest, ist das auch normal so. Es ist toll, dass du dich um deine Brüder sorgst."Lennard atmet auf.
„Ich weiß nicht... Es geht so schnell... Ich meine... Ich mag dich schon... Und... wenn du mich berührst... das ist auch schön... Aber ist das schon Liebe?"
Viktor schmunzelt über Lennards Unerfahrenheit.
„Das kann dir keiner verraten, das musst du schon selbst herausfinden. Ich weiß, es geht schnell. Es tut mir leid, ich wollte nicht länger warten. Aber... willst du herausfinden, ob das Liebe ist, was du für mich fühlst?"
„Ja, ich glaub schon", stellt Lennard fest.Viktor tanzt fast vor Freude und zieht Lennard sofort in seine Arme.
„Magst du das?"
Lennard überlegt kurz, bevor er kaum merklich nickt.
„Das ist toll. Versprich mir, dass du immer ehrlich sagst, wenn dir etwas nicht gefällt. Ich will dich nicht erdrücken."
„Mach ich."
„Eigentlich würde ich dich jetzt gerne küssen, aber ich glaube, das lass' ich lieber noch bleiben", erzählt Viktor und kichert leise. Darauf weiß Lennard natürlich wieder nichts zu antworten und lächelt stattdessen einfach.
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Es ist dein Leben - kämpfe dafür!
RomansaTonys Leben ist genau wie er es sich wünschen würde. Tolle Freunde, Wunschausbildung, Partys am Wochenende. Seine Freiheiten als Single nutzt und reizt er dabei gekonnt aus, bis ihm eines Tages ein Junge über den Weg läuft, der gegenteiliger nicht s...