Kapitel 9

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Kapitel 9

„Soooo alle einmal herkommen", ruft Amelie fröhlich.

Ich weiß, was das bedeutet und beeile mich, mein Tablett vor den Gästen zu entladen. Auf dem Weg in die Küche treffe ich Eleanor, die ähnlich zombieartig dem Duft des frischen Kuchens folgt. Immer, wenn Amelie einen neuen Kuchenversuch startet, probieren alle gerade Anwesenden ein kleines Stück davon, um ihre Meinung dazu abzugeben, schließlich wollen wir unseren Gästen nur das Beste verkaufen.

„Wir haben heute wieder den Schoko-Kirsch-Kuchen von Therese. Aber den habe nicht ich gebacken sondern Lennard, und ich finde, er hat es ganz fabelhaft gemacht. Lasst es euch schmecken", erzählt Amelie und weist auf den kleinen Teller mit den vier mundgerechten Stücken, in denen ein kleiner Zahnstocher zum Anfassen steckt.

Ich unterdrücke den Wunsch, den Namen meines Engels zu korrigieren. Stattdessen angele ich eines der Stückchen und schließe die Augen, um es zu kosten. Wahrlich köstlich schmeckt dieser Kuchen sowieso immer. Ich weiß bis heute nicht, welche Magie Eleanors Mutter in dieses Rezept gesteckt hat, denn sie konnte es mir leider vor ihrem Tod nicht mehr verraten. Aber mit dem leichten Hauch Zimt, der sich auf der Zungenspitze zu Wort meldet, ist es wieder mal etwas Besonderes.

„Wirklich köstlich. Mutter wäre stolz auf dich", stellt auch Eleanor fest, was wohl eine der höchsten Auszeichnungen für Lenny sein dürfte.
Auch Amelie und ich loben den Regenbogen rauf und runter (wobei das zwar nicht inhaltlich, aber doch wenigstens emotional eine passende Metapher ist, schließlich ist es kein Papageienkuchen). Lenny steht dabei klein in einer Ecke und schämt sich für die ihm zu Teil werdende positive Aufmerksamkeit.

„Ich schlage vor, dieses feierliche Ereignis teilen wir auch mit den Gästen", meint Eleanor und lächelt glücklich.
Das ist natürlich eine hervorragende Idee, sodass wir die eigentlichen Kuchenstücke vierteln, und für jeden gerade anwesenden Besucher einen kleinen Teller fertigmachen. Manchmal kommt in solchen Situationen wieder das Kind in Eleanor durch. Der Hang nach dem dramatischen, der Hang, das Leben zu einem Film zu machen.

Es finden sich nun also leicht dezentral ein quadratisches Stück Kuchen, flankiert von einem Häufchen Sahne und einem kleinen Klecks Schokosoße auf jedem Teller ein.
„Amelie?", fragt Lenny verlegen und wird schon wieder ein bisschen rot, weil ihn alle ansehen.
„Habt ihr noch ein paar Kirschen, oder Erdbeeren, Johannisbeeren oder sowas da? So... für die Optik?", meint er zum Ende immer leiser werdend.
„Erdbeeren sind noch im Kühlschrank, aber sei doch nicht so verlegen! Das ist eine tolle Idee!", bestätigt Amelie. Die Freude über Lennys Vorschlag ist ihr anzusehen.
Dieser schneidet die Beeren – Verzeihung: Sammelnussfrüchte – in Viertel und platziert sie ordentlich als Krönchen auf der Sahne.

Wie eine Mutter lächelt Amelie, wie eine Großmutter Eleanor und ich wie ein Junge, der sich von Sekunde zu Sekunde hoffnungslos in diesen Goldschatz verliebt. Okay, ich bin wohl genau das.
Zu viert gehen wir hinaus und servieren an allen besetzten Tischen jedem einen der kleinen Teller.

„Ohh gibt es etwas zu feiern?", fragt eine sehr alte Frau, die mindestens seitdem ich hier arbeite einmal wöchentlich vorbeikommt.
„In der Tat", verkündet Eleanor, „nämlich den allerersten Kuchen unseres neuen Freundes und Mitarbeiters."
Jener neue Freund und Mitarbeiter macht sich immer kleiner und hat ein sichtliches Problem mit der ganzen Beachtung.
„Verstehen Sie das als Gruß der Küche, oder wie das in den großen Lokalen genannt wird. Dieser Nachtisch geht aufs Haus", freut sich Eleanor, während sie in eine fast schon prophetische Tonlage gerät.

Ich stelle mich neben meinen Engel und lege vorsichtig einen Arm um ihn. Fortan bin ich wohl noch aufgeregter als er selbst. Doch all meine Sorgen sind unbegründet, denn nach einigen Sekunden lehnt sich Lenny an meine Schulter und nimmt all die einfliegenden Lobe der Gäste hin.

„Vielen Dank", flüstert er leise. Ich bin nicht ganz sicher, ob das an mich oder an die Gäste gerichtet war, aber in beiden Fällen bin ich einfach nur glücklich.
Dann dreht sich Lenny um und geht zurück in das Gebäude. Stumm lehnt er sich auf den Tresen und schaut betont von mir weg.

Als ich auf die andere Seite des großen Tisches laufe – denn für Lenny ungünstiger weise stehen Tresen niemals an der Wand – sehe ich auch, wieso.
Lennys Wangen sind ganz nass und gerade in diesem Moment rollte eine weitere Träne aus dem Augenwinkel.

Verzückt seufze ich auf und wische sie schnell aber sanft mit dem Daumen beiseite.
Ich sehe in Lennys Augen, die zwar nicht mich fokussieren sondern die Wand, aber egal, auf seine Lippen und zurück. Er ist nicht traurig, mein Engel weint vor Glück.

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Tatsächlich ist Lennard alles andere als unglücklich. Doch ist er mit dieser positiven Reaktion auf seine Künste überfordert. In Kombination mit Viktors liebevoller Nähe hat ihn das aus der Bahn geworfen. Einige Minuten braucht er noch, bevor Lennard sich die Augen trocknet.

Dann läuft er wortlos hinaus und bedient die Gäste weiter, als sei nie etwas geschehen. Ein paar Leute geben noch ein kleines Kompliment, ansonsten ist eigentlich alles wieder wie vorher. Und das ist Lennard auch ganz recht so.

Als es langsam kühler und später wird, meint Viktor: „Ist es eigentlich okay für dich, immer ungefähr bis um sechs hier zu bleiben?"
Lennard bejaht das und sieht auf die Uhr.
„Oh, das ist ja schon vorbei", stellt er verlegen fest. Wie doch die Zeit vergeht...
„Jep. Du... hast du Lust... dass wir am Donnerstag nach der Arbeit noch ein bisschen spazieren gehen? Ich würd gerne in Ruhe noch ein bisschen mit dir quatschen", schlägt Viktor nervös vor.
„I-ich weiß nicht... Ich muss nach der Arbeit eigentlich immer direkt nach Hause... mein V – meine Familie wartet auf mich", entschuldigt sich Lennard.
„Oh... okay... Vielleicht... Hast du etwas dagegen, wenn ich dich dann nach Hause bringe?", versucht Viktor es noch einmal mit zitternden Knien.

„Das... das wäre schön", stimmt Lennard zu und scheint es wirklich ernst zu meinen.
Er hängt seine Schürze an einen der Haken unter dem Tresen, an dem mittlerweile sein Name steht.
„Dann... Bis Donnerstag?", fragt Viktor, mit einem leichten Flattern in der Stimme.
Lennard nickt lächelnd und wendet sich zum Gehen.

Geradeso aus dem Augenwinkel sieht er noch, wie Viktor die Arme ausbreitet. Unschlüssig geht er langsam in Richtung Tür. Er denkt an seine Brüder, die ihn auch immer zum Abschied umarmen. Aber andererseits wäre es doch jetzt komisch, sich noch einmal umzudrehen...
Vor der Tür hält Lennard inne. Schließlich entscheidet er sich doch noch einmal anders und läuft zu Viktor zurück, der ihn glücklich in die Arme schließt.
Sanft streichelt jener Lennards Rücken und zieht den Duft seines Geliebten ein.

„Darf ich vielleicht auch heute schon mitkommen?", fragt Viktor dann kindlich, weil er sich einfach nicht von Lennard trennen kann. Dieser zuckt mit den Schultern und löst sich aus der Umarmung. Langsam begann er, sich bedrängt zu fühlen.

„Okay, fünf Minuten", meint Viktor fröhlich und beeilt sich, alles zu ordentlich zu hinterlassen. Montag bis Donnerstag übernehmen Amelie und eine weitere Kollegin die Aufräumarbeiten, am Wochenende ist Viktor dafür zuständig. Deshalb kann er einfach so bei Lennard bleiben und muss sich nur schnell verabschieden (wobei ihm Amelie einen warnenden Blick zuwirft).

Mit Fokus auf der Uhr wartet Lennard auf ihn, bevor sie gemeinsam das Café verlassen. Das Gespräch auf dem Weg verläuft ein wenig stockend, da Lennard kein Mensch der vielen Worte ist. Dazu kommt, dass Viktor nicht wie sonst einfach drauf los redet, sondern jeden Satz dreimal überdenkt. Dennoch genießt er jeden Meter, den er mit Lennard gemeinsam zurücklegt, und diesen scheint es zumindest nicht offensichtlich zu stören.

Je weiter sie gemeinsam gehen, umso freier wirkt Lennard, doch umso besorgter wirkt auch Viktor. Es schockiert ihn, dass Lennard abgesehen von dem angeblichen Judotraining eigentlich kein Hobby zu haben scheint. Natürlich, dass er backen kann hat er bewiesen, aber ein Junge in dem Alter muss doch noch irgendetwas anders machen, und wenn es doch nur Gaming ist.
Dennoch fühlt sich Viktor wohl in seiner Nähe und sieht mit jedem Schritt mehr ein, dass er sich Hals über Kopf in diesen fast schon zu dürren Jungen neben ihm verliebt.

Zumindest hat er noch einiges an Hoffnung, und in die Umarmung vorhin lässt sich schließlich auch wunderbar ein Anfang von etwas Großem hineininterpretieren.

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