Kapitel 4

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„Du siehst so aus, als würdest du hier am liebsten eine Endlosschleife draus machen", kichert Nikita, der gerade nur mit Boxershorts bekleidet aus dem Bad kommt.
„Zu gerne, aber ich muss leider gleich arbeiten gehen", teile ich enttäuscht mit, meinen Blick über seinen Körper gleiten lassend.
„Na wenn das mit dem Arbeiten wie mit dem Staubwischen ist", entgegnet Nikita und greift nach meiner Hand.
„Leider nicht, irgendwie muss man ja Geld verdienen", schniefe ich, wehre mich aber nur halbherzig, als Nikita meine Hand auf seine Brust legt, und langsam seinen Oberkörper auf und ab führt.
„Ach ist das so? Da sagen deine Blicke, aber etwas anderes", erwidert er. Sanft wird mein Kinn von seiner freien Hand angehoben, sodass ich ihm in die Augen sehen muss.
„Du bist gemein", stelle ich fest, und gebe ihm einen betont flüchtigen Kuss.
„Ich weiß, das ist der Plan", kichert er, begibt sich aber dennoch auf die Suche nach dem Rest seiner Bekleidung.

Kurz darauf verlassen wir gemeinsam meine Wohnung.
„Ich weiß schon, wieso ich so gerne spazieren gehe" lacht Nikita, während wir die Treppe herab gehen. Mittlerweile bin ich recht spät dran, aber es sollte noch zu schaffen sein. Meine Wohnung ist zwar immer noch staubig, aber die Alternative war doch um einiges verlockender.

Wir unterhalten uns locker auf dem Weg durch die Blocks von endlosen Mietwohnungen. Dazwischen befinden sich häufig blumige Wiesen, über denen die Wäsche im Wind flattert. Kleine Asphaltwege, die zwar keine Straßen sind, notfalls aber auch mit dem Auto befahren werden könnten, durchziehen netzartig die Plattenbauten und stellen angenehme Pfade dar. Nikita scheint mir wirklich ein netter Typ zu sein, wir verstehen uns gut. Ganz kurz flackert der Gedanke durch mich, dass da vielleicht doch etwas mehr draus werden könnte, aber den verwerfe ich schnell. Die Unverbindlichkeit ist etwas tolles, ohne die wären solche Tage wie heute undenkbar.

„Du bist doch ganz geoutet, oder?", fragt Nikita, woraufhin ich nicke.
„Gut, dann kann ich dir ja hier einen Abschiedskuss geben, denn ich wohne hier", erzählt er und lässt sich von mir an mich ziehen.
Gierig drücken wir die Lippen aufeinander und küssen uns leidenschaftlich vor der Tür seines Hauses.
Nach bestimmt einer Minute kichere ich: „Spannend, was bei dir so ein Abschiedskuss ist."
„Na das hier", lacht er und gibt mir einen letzten Kuss, nicht ohne mir dabei kurz die Hand auf den Hintern zu legen.
„Du bist doch unmöglich", meine ich kopfschüttelnd und zwinkere ihm zu, bevor ich mich zum Gehen wende.

Es ist schönes Wetter, also entschließe ich mich, auch den Rest zu laufen. Ich mag es, auf einem Weg mit Ziel zügigen Schrittes den Menschen entgegen zu kommen, die Sonne zu genießen und mich freuen, was für ein Glück ich doch habe. Eine Ausbildung die mir Freude macht, einen Nebenjob der entspannter nicht sein könnte, und ein paar Freunde, mit denen ich alles machen kann. Also teilweise wirklich alles. Mehr brauche ich nicht.

Langsam komme ich in lebhaftere Gefilde. Immer mehr Menschen stehen in den Straßen vor kleinen Geschäften, sitzen auf Bänken oder dem Bordstein, oder schlendern ziellos umher.
In der Ferne sehe ich bereits die wunderschön von der Sonne beleuchtete Fassade des Cafés. Ich liebe den Sommer um diese Uhrzeit. Besser könnte man den gelb leuchtenden Sandstein, die dunkle, reich verzierte Tür, die riesige rosa Blüte darüber nicht einmal malen.

Gut gelaunt reiße ich die Tür auf – und entschließe mich angesichts der Luft im Raum, sie auch erst einmal in diesem Zustand zu belassen. Jedes Mal aufs Neue begeistert mich dieses kleine, süße Café. Die alten Holzdielen, die Schallplattensammlung, die teilweise echt hässlichen, überhaupt nicht passenden Möbel, die Sammeltassen – alles ist so wunderbar imperfekt und wohnlich. Draußen gibt es auch einen kleinen Freisitz, der jetzt im Sommer eigentlich immer voll ist. Zugegeben: drei Tische sind nicht schwer zu füllen.

Vor dem fast schon antiken Tresen steht ein Junge etwas verloren in der Gegend herum und wartet sichtlich nervös, dass sich jemand mit ihm beschäftigt.
„Amelie, lässt du schon wieder die Leute warten?", rufe ich fröhlich in die kleine Küche hinein.
„Jaja, mach du doch mal alleine zur Mittagszeit", schallt es zurück und ich schüttele den Kopf. Amelie ist wirklich eine gute Seele, keiner schmeißt den Laden so gut wie sie.

„Hallo, was darf's denn sein?", frage ich freundlich dem Jungen zugewandt, während ich mir die rote Schürze umbinde (eigentlich wollten wir passend zum Café rosafarbene kaufen, aber wenigstens ein bisschen seriös wollten wir doch wirken).
Von vorne sieht er mindestens genauso verloren wie – wenn auch noch deutlich ansprechender als – von hinten aus.
„Guten Tag, ich bin Lennard Augustin Mayenburg. Mein Vater hatte für mich angerufen, ich bin wegen des Arbeitsplatzes hier."
Irritiert ziehe ich die Augenbrauen hoch. Hat man diesem Jungen einen Sprachchip eingepflanzt? Wortwahl und Aussehen passen so überhaupt nicht zusammen, dass ich mich frage, ob ich schon wieder den technischen Fortschritt verpasst habe.
Aber ja, wenn ich so darüber nachdenke, heute sollte Verstärkung kommen.

„Ah, wunderbar. Erstmal: Hey Lennard, ich bin Viktor. Und das ist kein Arbeitsplatz, sondern ein Geschenk. Du darfst aber ‚Job' sagen. Schön dich kennen zu lernen. Komm doch erstmal mit hinter", schlage ich vor und führe ihn in ein kleines Büro.
„Jaja, lass mich noch länger alleine", meckert Amelie mit ironischem Unterton.
„Motz nicht rum, ich beschaff dir Verstärkung", erkläre ich und bedeute dem sichtlich irritierten Lennard, sich auf den weicheren der beiden Sessel zu setzen.
Ich lasse mich auf den anderen fallen und nehme mir selbst einen Keks aus der Dose, bevor ich sie Lennard anbiete. Höflichkeit lebt.
Doch er lehnt sowieso ab, sodass ich „mehr für mich" murmele, und mit den Schultern zucke.

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