Kapitel 1

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Ich blickte aus dem Fenster des fahrenden Autos. Überall nur Wälder, Flüsse und Berge. Wie lange hatte ich das hier schon nicht mehr gesehen? Vermisst? In Montreal sah man immer nur in den Himmel ragende Gebäude, Straßen, Autos und viele Menschen. Viel zu viele, aber man gewöhnte sich nach einiger Zeit daran. An den ständigen Trubel, die Lautstärke und die Hektik.

Kingscroft dagegen war nur ein kleines Städtchen irgendwo im nirgendwo in Kanada, wo ich meine Kindheit verbracht hatte. Nach 5 Jahren wieder hier her zu kommen war eigentlich nicht mein Plan gewesen, aber bei einer so sturen Mutter wie ich sie hatte, war es fast unmöglich, ihr zu wiedersprechen. Außerdem war es für sie unendlich wichtig, wieder nach Kingscroft zurückzukommen.

"Wir sind in 5 Minuten da." trällerte meine Mom fröhlich. "Glaubt mir, ihr werdet unser Haus gar nicht mehr wiedererkennen. Eure Tante hatte es erst vor kurzem renovieren lassen. Es sieht jetzt viel gepflegter und moderner aus." sagte sie.
Sheldon, der auf der Rückbank saß, gab nur ein Murren von sich. Hoffentlich würde er es verkraften. Durch den Rückspiegel sah ich jedoch, wie er sich kaum merklich entspannte. Ich konnte ihn verstehen, mir ging es ähnlich. Wir bogen von der Hauptstraße in eine kleine Nebenstraße ab, die kurz durch einen Wald führte. Dann sah ich die ersten Häuser von Kingscroft in der Abenddämmerung.

Ich spürte wie sehr der Wolf in mir das alles hier vermisst hatte. Ich verdrängte dieses Gefühl jedoch schnell wieder in die allerletzte Ecke meines Bewusstseins, damit ich es nicht spüren konnte. Es war unwichtig. Für mich.
Wir fuhren weiter die schmale Straße durch Kingscroft entlang, an die sich links und rechts kleine Häuser reihten. Dann sah ich es. Unser altes Familienhaus von damals. Naja, alt konnte man es jetzt nicht mehr nennen, schließlich sah es wie neu aus. Meine Mom hatte nicht untertrieben. Wäre man das erste Mal in Kingscroft, würde man vermuten, es wäre erst frisch gebaut wurden.

Sie parkte vor der kleinen Garage unseres hellblau gestrichenen Hauses  und stiegen aus.
"Na dann wollen wir uns das gute Stück doch Mal anschauen" sagte ich, um die Spannung etwas zu aufzulockern, die sich durch Sheldons nicht besonders gute Laune entstand. Aber ich konnte ihm keine Vorwürfe machen. Meine Mom kramte den Schlüssel aus ihrer Handtasche und schloss auf. Ich erwartete ein quitschen, aber die Tür gab keinen Laut von sich, was sie früher immer getan hatte. Ich betrat als Erstes unseren Flur, von dem aus es weiter in das Wohnzimmer ging.

"Hat eure Tante das nicht großartig renovieren lassen?" sagte meine Mom etwas stolz. Und sie hatte Recht, alles sah neu aus, ein paar der Möbel von früher waren noch vorhanden aber viele wurden auch ersetzt und erneuert. Dennoch konnte man die Melancholie, die die Luft verpestete förmlich riechen. "Ja, ganz okay" versuchte ich mich. Ich wollte hier, nach Kingscroft, nicht mehr zurück, wo die gesamten Erinnerungen wieder auf mich hineinbrechen konnten. Aber hier waren nicht nur schlechte Erinnerungen entstanden, sondern auch schöne, die ich niemals vergessen würde. Wehmut kam in mir hoch. Ich vermisste die unbeschwerte Zeit von früher. Sheldon ging ,ohne ein Wort zu sagen, an mir vorbei und durch unser Wohnzimmer zu einer Tür, wo damals sein Zimmer war. "Sheldon, kommst du klar?" fragte unsere Mutter vorsichtig. "Geht schon." hörte ich seine erstickte Stimme. Ihm ging es nicht gut. Aber er war stark, er würde sich an das hier gewöhnen und es überstehen, so wie ich. Nur das er eine noch größere Last mit sich herumschleppte. Meine Mom wollte noch etwas erwidern, da krachte auch schon seine Tür zu. "Lass ihn, Mom, ich rede gleich nochmal mit ihm." Sie nickte dankend. "Es tut mir leid. Ich habe es aber nicht länger in der Stadt ausgehalten, ohne..." Ich  lächelte traurig. "Mom, schon gut. Ich verstehe das. Und Sheldon tut das auch. Er braucht nur etwas Zeit."

Sie stellte ihre Tasche ab, ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank. "Ich sollte dann wahrscheinlich erstmal kurz einkaufen gehen, packt derweile eure Sachen aus, der Rest sollte morgen dann vorbeigebracht werden" sagte sie nun wieder etwas selbstsicherer. Ich nickte, hörte noch wie die Haustür ins Schloss fiel und ging auf die Tür meines Bruders zu. Ich klopfte kurz und öffnete sie. "Alles okay?" fragte ich vorsichtig und versuchte, die Trauer, die auch in mir aufkam, nicht zu zeigen.

Er packte gerade seinen kleinen Koffer aus. Er wollte sich ablenken. Auf andere Gedanken bringen. Das haben wir früher so oft gemacht. Haben so viel gearbeitet und uns beschäftigt, damit wir nicht an Darran denken müssen. Aber das ist keine Lösung.  "Jaaa, was sollte denn nicht stimmen. Ich habe doch gesagt dass ich damit klar komme, sonst wäre ich ja gar nicht erst mitgefahren!" ging er mich an.
"Ich weiß, aber hauptsächlich bist du ja mitgekommen, weil du Mom nicht alleine lassen konntest und um deinen Abschluss hier zu machen. Du weißt, dass das auf einer Schule mit Lykanern deutlich leichter ist." versuchte ich vorsichtig
Er hielt inne und schaute auf. "Luna, lass es einfach, okay? Ich komme damit klar." wiederholte er sich nochmal, wahrscheiich um sich sich selbst das einzureden. Na gut, dann eben nicht. Ich habe es versucht.

Ich verließ sein Zimmer und ging mit meinem ebenfalls kleinen Koffer, der bestimmt mit dem von Jerry der Maus mithalten konnte, die Treppe in den 1. Stock hinauf. Dort befand sich im Gang links mein Zimmer. Vorsichtig drückte ich die Tür auf. Es war dunkel. Die Sonne war gerade erst untergegangen, also drückte ich auf den Lichtschalter. Mein Zimmer hatte sich wenig verändert. In der Mitte an der Wand stand immer noch ein Bett, wobei es durch ein neueres, größeres ersetzt wurde. Ich stellte meinen Koffer ab und setzte mich darauf. Traumhaft. Also Geschmack hatte meine Tante. Und weich war es auch.

Sie ist, als wir weggezogen waren, hier eingezogen, und hat sozusagen auf unser Haus aufgepasst. Doch nun, da sie geheiratet hat, ist sie mit ihrem Mann woanders hingezogen.
Neben meinem Bett stand eine kleine weiße Kommode, wo ich später meine Kleidung hineintuen konnte. Am Fenster rechts von meinem Bett war meine Fensterbank, auf der ich immer so gern gesessen hatte.
Damals...
Wow, waren das viele Erinnerungen, die hier entstanden sind.

Samstag Abend. Meine Mom war vom Einkaufen zurück und hatte uns dreien ein paar Sandwiches gemacht. Ich setzte mich an den Küchentisch zwischen meiner Mom und meinem Bruder. "Morgen werden dann so gegen Nachmittag noch unsere restlichen Koffer gebracht. Und am Montag müsst ihr beiden noch euren Stundenplan und eure Bücher und Spindnummern im Sekretariat der Schule abholen. Und vergesst nicht, dass es uns Lykanern während des Aufenthalts in der Schule verboten ist, unsere richtige Augenfarbe zu zeigen. Das dient nur als Schutzmaßnahme, damit es nicht zu Raufereien oder schlimmeres zwischen den Black- und White Wolves kommt oder die Menschen ohne eine zweite Gestalt nicht benachteiligt werden."
"Mom, wir leben nicht auf dem Mond" sagte ich scherzend. "Das wissen wir doch."

Wir Lykaner, also Menschen mit einer zweiten Gestalt, werden mit bestimmten Augenfarben geboren, die anzeigen, zu welchem Rudel wir angehören, obwohl man überhaupt nicht mehr von Rudel sprechen kann. Unsere Familie, die zu den white Wolves gehört, hat tiefblaue Augen, das Markenzeichen unseres Rudels.
Die black Wolves dagegen haben alle bernsteinfarbene Augen. So könnten wir uns gegenseitig auseinanderhalten.

"Luna, soll ich dich am Montag mit zur Schule fahren?" fragte mich nun Sheldon, der seit wir wieder hier waren das erste Mal einen richtigen Satz zustande gebracbt hatte. Die kleinen Fortschritte zählen. Er besaß bereits ein eigenes Auto, was er wahrscheinlich auch morgen noch abholen würde. "Klar, dass wäre großartig. " sagte ich und sah ihn dankbar an und nahm einen großen Bissen von meinem Sandwich.

Nach dem Essen verzog ich mich auf mein Zimmer und setzte mich auf die Fensterbank ans Fenster. Die Nacht wirkte immer so friedlich ruhig und unendlich. Und ich konnte den Sternenhimmel beobachten. Seit langem das erste Mal wieder.
In der Großstadt bekam ich sie nie zu Gesicht, durch die Lichteinstrahlung der vielen Straßenlaternen, Häusern und anderen Lichtern. Aber hier, wo man regelrecht spüren konnte, wie fasziniert das Leben als Wolf sein konnte, war es eine Droge, wenn man einmal seine  Blick auf den Himmel gerichtet hatte. Auch wenn mein Wolf sehnsüchtig das alles in sich aufnehmen wollte, unterdrückte ich ihn. Der Versuchung würde ich wiederstehen, das hatte ich mir geschworen.

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Hii🥰
Das ist nun das erste richtige Kapitel nach dem Prolog. Ich hoffe es gefällt euch. Ich werde versuchen mehrmals die Woche ein neues Kapitel hochzuladen.
Gebt mir auch gerne Feedback🤗
~Vanessa

Wolfsnacht - Das Ende der DunkelheitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt