1. Türchen - Nichtsnutz

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Der einzige Grund, weshalb er das Badezimmer im Keller betrat, war der, dass er hoffte dort alleine und ungestört zu sein. Doch seine Hoffnung verließ ihn in dem Moment als er die Tür aufdrückte und zwei eiskalten blauen Saphiren gegenüberstand. Ihr zorniges Funkeln versetzte ihn in eine Schockstarre, so als wäre er am Boden festgefroren.

„Das hier ist mein verdammtes Bad, also mach, dass du verschwindest, Nichtsnutz."

Das letzte Wort spuckte sie mit so viel Verachtung aus, dass es sich wie ein Fausthieb in seine Magengrube anfühlte. Endlich konnte er sich wieder rühren und verschwand umgehend aus dem Keller. Er dachte dabei weder daran, dass das Bad im Keller eigentlich niemandem gehörte und noch weniger fragte er sich, ob Nichtsnutz nicht doch sein richtiger Name war, anstelle von Max. Nein, um sich diese Sachen zu fragen, müsste es ihn erst interessieren, aber das tat es nicht. Es gab nichts, dass Max wirklich interessierte. Ihm ging alles am Allerwertesten vorbei. Die bescheuerte Menschen, bei denen er Leben musste. Die Zeit, die er in der Schule hocken musste, um nicht seine letzte Verwarnung zu bekommen und natürlich seine Existenz im allgemeinen. Wenn ihn niemand haben wollte, wieso gab es ihn dann überhaupt? Nicht, dass ihn die Antwort darauf interessieren würde.

Sein Rückzugsort, seit er zu seiner bisher vierten Familie überwiesen wurde, lag zwischen dichten Büschen in der Nähe des örtlichen Spielplatzes. Hier hatte Max seine Ruhe und hier würde ihn niemand finden.Vielleicht war dieser Platz bekannt, aber wen kümmerte es, Max jedenfalls nicht. Zumal zu dieser Jahreszeit kaum Kinder draußen spielten, da bereits Temperaturen unter dem Gefrierpunkt gemessen wurden.

Als Nichtsnutz schien er geboren zu sein und als solcher lebte er ein einsames und womöglich bedauernswertes Leben. Er hatte nichts in seinen mickrigen siebzehn Jahren erreicht, weder eine gute Note in der Schule, noch eine besondere Leistung in Sport. Für seine Pflegefamilien war er ein Schandfleck und höchstens als zusätzliche Einnahmequelle geduldet. Das richtige Kind der Familie hieß Nina und sie hatte mit ihren fünfzehn Jahren wohl schon mehr im Leben geleistet als er. Aber wen interessiert es? Nicht einmal seine leiblichen Eltern wollten ihn, so wurde es ihm in jeder Pflegefamilie vorgehalten. Häufiger von den Kindern als den Eltern, aber im allgemeinen von mindestens einem dieser Parteien.

Max zog seine Beine an seinen schmalen Oberkörper heran und machte sich in seinem Versteck so klein wie er nur konnte. Die leichte Jacke, welche eigentlich viel zu dünn für den Winter war, bot ihm wenig wärme, aber das kümmerte ihn nicht. Frieren würde er auch in seinem unbeheizten Zimmer, bei den Schäfers. Trotz seiner Lage, hatte er noch nie geweint, niemals. Er wusste nicht einmal, ob er dazu fähig gewesen wäre, wenn er es gewollt hätte.

Der Wind ließ die Blätter rascheln und Max horchte auf. Nicht weit von ihm entfernt lag ein Fluss, oder eher ein etwas breiterer Bach. Das fließende Wasser zusammen mit dem rascheln der Blätter war wie Musik in seinen Ohren. Er hätte dem Spiel noch Stunden lauschen können, wenn da nicht dieses untypische plätschern wäre. Erst hielt Max es nur für einen Frosch, der sich unruhig im Wasser bewegt, aber dafür war es zu laut und zu unregelmäßig.

Obwohl ihn eigentlich nichts genug interessierte, um sich darüber Gedanken zumachen, störte ihn dieses Plätschern in seiner Ruhe. Er gab seine Position im Gebüsch auf und trat langsam auf den Bach zu, um die  Geräuschquelle zu finden. Erst kam ihm nichts merkwürdig vor. Keine Menschenseele war zu sehen und doch war das Wasser unruhig, als würde jemand darin stehen oder Steine hinein werfen. Selbst jetzt, als er vor dem Bach stand, konnte er es hören und doch nichts sehen.

Was zum Teufel stimmte nicht mit ihm? Hörte er schon Dinge, die nicht da waren? Demnach müsste er verrückt sein in seinen Fehlerbogen aufnehmen, wenn er so etwas führen würde und es ihm nicht schlichtweg egal gewesen wäre. Er hätte auf gut Glück fragen können, ob da wer war, wie in einem schlechten Horrorfilm. Aber seine Stimme würde nicht einmal ein klares „Wer" herausbringen. Dafür war sie viel zu schwach, weil sie viel zu selten benutzt wurde. Er gab nie Widerworte oder versuchte sich am Unterricht zu beteiligen, weshalb er nicht einmal mit Gewissheit wusste, ob er überhaupt sprechen konnte. Hier ging es ihm ähnlich wie mit den Tränen. Also blieb er einfach eine Zeit am Bach stehen und gewöhnte sich irgendwann an das zuerst merkwürdige Plätschern.

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