17. Türchen - Eine Begegung im Wald

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Sie sieht so friedlich aus, wie sie da an die Weide gelehnt sitzt und schläft. So allein, mitten auf der Lichtung? Ich nehme jedenfalls an, sie schläft, aber genau kann ich es nicht sagen. Schließlich sehe ich nur, dass ihre Augen geschlossen sind. Diese Trauerweide ist mein geheimer Rückzugsort, wenn ich nachdenken muss. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig als hier zu warten, bis sie geht.

Ihre hellen Haare fließen in goldenen Strähnen ihr Gesicht entlang und bleiben auf ihren Schultern liegen. In ihrem Schoß gefaltet ruhen ihre Hände. Sie sehen so weich aus, dass sie in mir den Wunsch wecken sie zu berühren, zu streicheln. Was denke ich da nur? Ich kenne dieses Mädchen noch nicht einmal. Meine Gedanken sind schändlich, dennoch ist sie es, die mich zu solchen Gedanken verleitet. 

Als sie sich kurz bewegt, glaube ich mein Herz rutscht mir in die Hose. Hat sie mich gesehen? Schnell verberge ich mich noch weiter hinter den Baum, an welchem ich lehne. Das Mädchen setzt sich gerader hin und kämmt sich mit ihren grazilen Fingern durch das wunderschöne Haar. Ach, könnte ich es doch nur berühren.

Doch was macht sie so alleine hier im Wald? Es kann hier gefährlich sein, sie sollte besser in Begleitung sein. Ich kann ihre Augen erkennen, ein tiefes Blau. Herrlich. Blondes Haar und blaue Augen. Sie sieht aus wie ein Engel, nur die Flügel fehlen. Sie gähnt ausgiebig und streckt dazu ihre schlanken Arme in die Höhe, dann dreht sich sich ein Stück und greift nach einem Buch links neben sich. Lag es vorher schon dort? Ich habe es nicht gesehen. Sie schlägt es auf und legt es vor sich wieder auf das Gras. Jetzt greift sie zur anderen Seite und holt eine Tasche hervor, diese scheint selbstgemacht zu sein, schön zusammengeflochten aus bunten Schnüren. Der Engel greift hinein und befördert einen Stock ans Tageslicht. Nicht besonders schön. Er ist braun und hätte genauso gut vor mir auf dem Waldboden liegen können, ich würde ihm keine Beachtung schenken. Was hat sie damit vor? Sie legt den Stock nur neben das Buch, lehnt sich zurück und schließt die Augen. Will sie wieder schlafen?

So langsam kann ich nicht mehr stehen, doch hinsetzten geht auf keinen Fall. Sie könnte mich hören. Ich werde es aushalten müssen, wie ein Mann. Von einen Fuß auf den anderen trete ich, damit meine Gelenkte nicht steif werden. Und meinem Gewicht ist es zu verdanken, dass ich dadurch zu viele Geräusche mache. Eines davon muss den Engel alarmiert haben, denn nun steht sie vor der Trauerweide und winkt zu mir herüber. Erleichterung erfasst mich, sie hat sich nicht erschreckt und ich darf mich ihr nähern. Mit vorsichtigen Schritten gehe ich auf sie zu.

„Standest du da schon lange? Ich habe dich bis eben gar nicht bemerkt."

Ihre Stimme ist so sanft und weich, sie kann wirklich nur ein Engel sein. Ich schüttle als Antwort den Kopf, da ich meiner Stimme nicht traue. Vielleicht auch wegen der Angst, sie könnte ihr nicht gefallen.

„Möchtest du dich zu mir setzten? Ich würde zu gerne mehr über diesen Ort erfahren, kennst du dich hier aus?"

Nun muss ich ihr antworten, sonst würde die Situation komisch werden. Also räuspere ich mich kurz und begrüße mich erst einmal: „Ja, ich kenne mich hier gut aus. Ich würde den Wald mit zu meiner Heimat zählen, so oft wie ich hier bin. Ich bin übrigens Kenai", ich halte ihr meine Hand entgegen, „und wie darf ich dich nennen?"

Sie schaut erst auf meine Hand, legt ihre auf meine und drückt sie nach unten. Dann schüttelt sie ihren Kopf um mir zu verstehen zu geben, dass diese Geste ihr nicht zusagt.

„Ich bin Kira. Es muss dir vielleicht merkwürdig erscheinen, aber wo ich herkomme ist es verboten anderen die Hand zu geben, es könnte nämlich auch missverstanden werden. Ich bitte dich das zu entschuldigen. Ich freue mich dennoch dich kennen zu lernen, Kenai."

Sie lächelt mich an. Ich kann es ihr nicht böse nehmen, wenn sie so lächelt. Darum bestätige ich ihr, dass ich es verstehe und frage Kira nach ihrem Buch und dem Stock daneben. Was hat es damit nur auf sich? Kira erklärt mir, dass diese Gegenstände sehr wertvoll für sie sind, ohne die könne sie nicht leben. Das klingt ein bisschen übertrieben, aber ohne diese ruhige Stelle hier könnte ich auch nicht leben. Weiter erzählt sie mir, dass sie lange nach so einem Ort wie diesem gesucht hat, denn wo sie herkommt, gibt es keinen solchen Platz zum Entspannen.

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