Alleine gehe ich durch die dunklen Straßen der Stadt. Mit meiner rechten Hand ziehe ich meinen Zeitungswagen hinter mir her. Ja, ich trage Zeitungen aus, mitten in der Nacht. Na gut. Es ist schon sechs Uhr, aber immer noch dunkel. Erst in eineinhalb Stunden geht die Sonne auf und bis dahin muss ich zu Hause sein.
Wenn ich bis dahin nicht in meinem dunklen Haus bin, werde ich im wahrsten Sinne des Wortes von der Sonne verbrannt. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich die restlichen Zeitungen bis dann verteilt habe, denn ich bin heute recht spät losgegangen. Aber darüber kann ich mir später Gedanken machen.
Ich bin kein Vampir, auch wenn man dass durch meine Aussage denken könnte. Nein, ich bin ein Nachtwesen. Nur nachts kann ich das Haus verlassen oder am Tag, wenn Wolken die Sonne komplett verdecken. Aber ansonsten bin ich, wie alle andere Nachtwesen auch, an die Dunkelheit gebunden.
Auf der anderen Seite gibt es die Tagwesen. Sie können an die Sonne, müssen es sogar. Denn wenn sie sich nicht durchgängig warm halten, dann gefrieren sie zu Eis. Auch wortwörtlich gemeint. Man kann nachts ganz genau sehen in welchen Häusern Tagwesen leben, denn dort brennt immer Licht.
Eigentlich unterscheiden wir uns ansonsten nicht wirklich voneinander. Vom Aussehen her sind die Nachtwesen immer etwas blasser und haben meistens dunkelbraune bis schwarze Haare, während die Tagwesen blonde oder weiße Haare und eine gesunde rosa Haut haben. Aber wir nehmen die gleiche Nahrung zu uns und unsere Anatomie ist identisch.
Es wäre also, rein theoretisch natürlich, möglich, dass ein Tag- und ein Nachtwesen ein Kind bekommen. Diese würde man Dämmerungskinder nennen und sie würden sowohl am Tag als auch in der Nacht überleben. Es gab vor etlichen Jahren Mal Versuche zu diesem Thema. Aber seit die neuen Gesetze eingeführt wurden, sind diese Versuche verboten.
Dabei könnten die Dämmerungskinder unsere Gesellschaft näher zusammen bringen. Vielleicht bis zu einem Punkt, ab dem es keine Unterscheidung mehr gibt, sondern nur noch Dämmerungswesen existieren. Das ist eine Utopische Vorstellung, besonders mit Blick auf die Gesetzteslage.
Mit den neuen Gesetzen kam nämlich die strengere Abgrenzung von beiden Gruppen. Nachtwesen und Tagwesen sollen keine Freunde werden und Liebe zwischen den Gruppen ist auch verboten. Wie streng das genau verfolgt wird, weiß ich nicht, da ich mich generell von allen anderen fern halte und dabei keine Unterscheidung mache.
Ich lebe in einer Gegend, in der Tag- und Nachtwesen noch gemischt wohnen. Im Gegensatz dazu gibt es auch Stadtteile, wo jeweils nur die einen oder die anderen leben. Solche Bereiche sind extra auf die Bewohner angepasst, weshalb dort die Miete zu hoch für mich war. Das ist auch der einzige Grund, warum ich in einen gemischten Stadtteil gezogen bin.
Die Anpassungen für die Nachtwesen sind zum einen komplett Überdachte Straßen und Wohnhäuser, sodass man dort auch Tagsüber das Haus verlassen kann und natürlich angepasste Öffnungszeiten für Geschäfte. Dort trifft man zu jeder Uhrzeit jemanden auf den Straßen, daran erinnere ich mich gerne zurück.
Für die Tagwesen sind in ihren Bereichen extra Wärmelampen aufgestellt, die sie zu jeder Zeit warm halten. Auch dort sind die Öffnungszeiten auf ihren Lebensrhythmus angepasst. In den gemischten Stadtteilen arbeiten die Verkäufer im Wechsel, da hier die Geschäfte immer geöffnet haben müssen. Ich war früher auch Verkäufer, darum weiß ich das.
Doch vor einem halben Jahr wurde ich gefeuert, weil ich mich wohl unangemessen gegenüber einem Kunden verhalten haben soll. Das stimmte natürlich nicht, aber mich ärgert das inzwischen auch nicht mehr. Zeitung austragen ist sowieso viel entspannter. Ich mache mir meine eigenen Pläne und bin nicht gezwungen mit irgendwem zu sprechen.
Außerdem verringere ich so auch meinen Kontakt zu anderen. Da ich meistens erst in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang anfange, begegne ich kaum Nachtwesen und Tagwesen erst recht nicht. Normalerweise bin ich dann auch schon längst zu Hause, wenn es dämmert, doch heute eben nicht.
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Adventskalender 2020
Short StoryEin Adventskalender für Menschen, die gerne traurige, übernatürliche oder verstörende Geschichten lesen. Kaum eine wird ein gutes Ende haben, bzw. ein Ende, dass halb traurig halb glücklich ist.