Auch im Winter werden Menschen beerdigt. Vielleicht nicht ganz so viele wie im Sommer, aber immerhin werden die Leichen dafür gut gekühlt. Auch der langjährige Arbeitskollege von meinem Vater wird beerdigt. Und ich muss mit auf den Friedhof, obwohl ich ihn kaum kannte.
Alle tragen Schwarz. Die Familie, die Freunde und die Mitgeschleiften, ich erkenne die anderen an ihren gelangweilten Gesichtern und dem flehenden Wunsch in den Augen, endlich gehen zu können. Ich habe mit Sicherheit genau so einen Ausdruck im Gesicht.
Während dem Trauergottesdienst in der Kapelle bin fast eingeschlafen, so langweilig war es da. Einmal hatte mich mein Vater sogar mit dem Ellbogen angestoßen, damit ich nicht vor versammelter Gesellschaft anfange zu schnarchen.
Jetzt stehen wir am Grab und frieren uns die Ohren ab. Nun gut, die die vorsorglich Mützen aufgesetzt haben natürlich nicht. Aber manche dachten vielleicht, dass man bei einer Beerdigung nur in der relativ beheizten Kirche sitzen muss und dann Kuchen und belegte Brötchen bekommt. Mit manche meine ich mich.
Also stehe ich hier in der bitteren Kälte und erfriere, während die Pfarrerin noch einige letzte Worte über den Toten verliert. Wenn wir hier nicht gleich fertig sind, dann können mich meine Eltern gleich mit begraben. Ich kannte den Kerl zwar kaum, aber man kann sich ja noch nach dem Tod kennenlernen, wenn man sich schon ein Grab teilt.
„Liebe Trauergemeinde, wir haben uns heute hier versammelt, um dem Verstorbenen, Leopold Ernst, die letzte Ehre zu erweisen. Er war ..."
Ein weiterer alter Mann, den sich der Tod geschnappt hat. Was ist daran bitte so besonders? Warum geht man überhaupt auf Beerdigungen?
„Außerdem hat er in seinen 40 Jahren bei der Freiwilligen Feuerwehr viele Brände gelöscht und Leben gerettet."
Achso, darum sind hier auch so viele von der Feuerwehr. Doch ist es darum nötig so eine große Beerdigung abzuhalten? Die Frau labert ja ohne Punkt und Komma. Gerade erzählt sie von einem seiner Einsätze. Langweilig. Ich werde definitiv noch am Boden festfrieren, wenn die noch länger redet.
„Das Leben rennt schneller an einem vorbei als man glaubt. Doch die Erinnerungen bleiben. Jeder von ihnen, erinnert sich an Leopold und lässt ihn so weiterleben, auch wenn er nicht mehr bei uns ist."
So ein Blödsinn. Wie soll denn jemand nach seinem Tod noch weiterleben können? Durch Erinnerungen sagt sie, aber das sind doch auch nur Momentaufnahmen. Ein Mensch wird nicht allein dadurch wieder lebendig, wenn man nur an ihn denkt.
Ich bin nicht blöd. Ich weiß schon, dass die Pfarrerin nicht meint, dass er wirklich lebendig wird. Aber reicht es wirklich aus sich an jemanden zu erinnern, um ihn oder sie nicht ganz sterben zu lassen? Vermutlich schon. Ich schließe es nicht aus, auch wenn ich es mir nur schwer vorstellen kann.
„Wir trauern. Das ist vollkommen normal und wichtig, um mit dem Verlust umzugehen. Das Leben besteht aus vielen traurigen, aber auch aus noch viel mehr glücklichen Momenten. Diese Momente machen unser Leben zu etwas besonderem und verleihen uns auch die Macht die Trauer zu überwinden."
Klar. Das Gute besiegt das Böse, ist doch in jedem Kinderfilm so. Die Trauer ist ein Übel, dass bekämpft werden muss und nichts anderes. Halt, nein. Dass hat sie nicht gesagt. Sie hat gesagt, dass sowohl traurig als auch glücklich sein zum Leben dazu gehören.
Jetzt habe ich es verstanden. Auch, wenn es mich nicht betrifft, kann ich dennoch für meine Eltern da sein und ihnen helfen, damit fertig zu werden. Trauer ist einfacher zu bewältigen, wenn man nicht alleine ist. Doch kann ich ihnen überhaupt beistand leisten, wenn ich nicht weiß, wie sich Trauer anfühlt?
Andererseits weiß ich, wie man sich respektvoll verhält und Rücksicht auf die Gefühle anderer nimmt. Schwer zu glauben, aber es ist die Wahrheit. Ich sollte am Besten sofort damit anfangen. Immerhin haben inzwischen die meisten eine Blume auf das Grab geworfen. Dann sollte ich es ihnen vielleicht gleichtun und auch Abschied nehmen, aus Respekt.
Ich nehme mir eine weiße Rose und lasse sie auf das, in die Erde herabgelassene, Grab niederfallen. Mit Andacht murmele ich: „Ruhe in Frieden" und stelle mich wieder zwischen meine Eltern. Meine Mutter schaut mich erstaunt an, was ein wenig komisch aussieht, da sie gleichzeitig wie ein Schlosshund weint. Ich nehme ihre Hand in meine und halte sie ganz doll fest.
Sie soll wissen, dass ich bei ihr bin und ihr dabei helfe, die Trauer zu überwinden, damit sie wieder glücklich sein kann. Ich ergreife auch die Hand von meinem Vater. Er weint zwar nicht, aber ich sehe ihm an, dass er jeden Moment anfangen könnte und das ist vollkommen in Ordnung. Es ist okay zu weinen.
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Adventskalender 2020
Short StoryEin Adventskalender für Menschen, die gerne traurige, übernatürliche oder verstörende Geschichten lesen. Kaum eine wird ein gutes Ende haben, bzw. ein Ende, dass halb traurig halb glücklich ist.