6. Türchen - Er sieht dich, immer

9 1 2
                                    

Eltern haben es nicht leicht. Besonders dann nicht, wenn ihre Kinder von Natur aus eine Tendenz zur Unartigkeit haben. Da kommt es auch schon Mal vor, dass sie Mittel einsetzen, die moralisch fraglich sein könnten.

Viele versuchen es natürlich erst einmal mit Belohnungen. ‚Sei brav und du bekommst Süßigkeiten' oder ‚Wenn du mir im Haushalt hilfst, dann gehen wir in den Zoo'. Doch was, wenn Belohnungen nicht mehr reizvoll für diese Kinder sind? Dann kommen Erpressungen, wie ‚Räum dein Zimmer auf oder ich nehme dir dein Handy weg'.

Als letzte Instanz wird die schwarze Erziehung benutzt, um den Kindern Angst zu machen und somit die Unartigkeit aus ihnen zu vertreiben. Nach dem Motto: Ein ängstliches Kind ist ein braves Kind.

Ich würde nicht sagen, dass ich ein Kind war, welches durch solche Methoden zum Brav sein gezwungen werden musste. Aber meine Eltern schienen generell eine andere Auffassung von Erziehung zu haben. Sie erzählten mir unzählige Geschichten von Gruselgestalten, die mich, wenn ich bestimmte Dinge tat oder nicht tat, auf grausamste Weise verletzten oder sogar töten würden.

Ich kann mich noch erinnern, wie ich Nachts nicht mehr nach draußen ging, weil mich sonst der Dunkel Mann missbrauchen, mir beide Hände und Füße abschneiden und sie meinen Eltern vor die Haustür legen würde, damit sie wussten, dass ich böse war. Oder der Schneider mit der Schere, der mir beide Daumen abschneiden würde, wenn ich weiter an ihnen nuckelte. Doch keine dieser Kinderschreckfiguren waren echt, bis auf eine.

Um die Weihnachtszeit herum erzählten mir meine Eltern immer wieder, dass ich mich brav verhalten sollte, nicht weil ich sonst keine Geschenke bekam, sondern weil sonst der Krampus käme und mich in den Wald verschleppte. Dort würde er mich qualvoll in Stücke reißen und auffressen.

Ich habe damals schon nicht viel von ihren Geschichten gehalten, manchmal schon, aber in diesem Fall nicht. Erstens würden meine Eltern nie zulassen, dass mich ein großes, fellbesetztes, horniges Wesen entführen würde. Zweitens war das in einer Phase meiner Kindheit, in welcher ich gerne über die Strenge schlug, nur um meine Eltern aufzuregen.

Wie gesagt, keine dieser Schreckgestalten existierte wirklich, abgesehen von dem Krampus. Es war am Abend vor Nikolaus, als ich ihm begegnete. In diesem Jahr war ich eine besonders große Plage für meine Eltern und es war auch das Jahr, in welchem sie mir zum ersten Mal von dem Krampus erzählten.

Während ich am Tag jede Minute nutzte, um meinen Eltern ein unartiges Kind zu sein, blieb ich Nachts wach, um nicht mitten im Schlaf überrascht zu werden. Doch es geschah nichts. Ich benahm mich weiter wie das kleine aufmüpfige Kind, dass ich damals war und vergaß den Krampus bald.

Ich erinnerte mich erst wieder an ihn, als ich, in einer unbequemen Lage, in einem Leinensack aufwachte. Panik und angst breiteten sich in meinem ganzen Körper aus. Mein erster Gedanke war jedoch nicht, dass mich jetzt der Krampus entführt hatte, sondern dass ich von einem Menschen entführt wurde.

Erst die komischen Geräusche, welche sich nicht menschlich anhörten, änderten meine Vermutung. Während mein Entführer über festen Untergrund ging, hörte es sich an, als hätte er Hufe. Und durchgängig war ein unheimliches Keuchen und Schnauben zu hören. Ich wollte nicht sterben. Noch nicht jetzt und schon gar nicht auf eine so brutale Weise, wie die, von der mir meine Eltern erzählt hatten.

Ich war schon immer sehr kommunikativ und überzeugend mit dem was ich sagte, darum versuchte ich mit meiner Stimme zu ihm durchzukommen. „Hallo, Herr Krampus? Ich gebe gerne zu, dass ich in letzter Zeit nicht gerade brav war, aber lässt sich nicht eine andere Möglichkeit finden?" Es kam keine Antwort, doch der Sack wurde auf den Boden gestellt.

Als er geöffnet wurde, blickte ich einer Gestalt entgegen, die dem ähnelte, wie mir meine Eltern den Krampus beschrieben hatten. Er tat nichts, sondern schaute mich nur an, als wollte er, dass ich fortfahre. Es war einfacher gewesen mit ihm zu reden, als ich ihm noch nicht in die dunklen Augen sehen musste.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und sagte: „Ich will noch nicht sterben, darum bitte, gib mir eine Chance zu beweisen, dass ich ein gutes Kind sein kann. Ich werde nie wieder unartig sein. Ich werde meinen Eltern immer helfen, wenn sie etwas von mir möchten. Bitte gib mir eine zweite Chance."

Ich hatte flehend meine Hände gefaltet und nicht einmal meine Augen von dem Krampus abgewendet. Nun lag die Entscheidung bei ihm, ob er mir diese Chance gewehrte oder mich doch noch auffraß. Er traf seine Entscheidung, schloss den Sack und ging zurück. Vor meinem Haus ließ er mich aus dem Leinensack krabbeln und verschwand zwischen den Bäumen.

Ich bekam in dieser Nacht eine zweite Chance und bis heute habe ich sie so gut ich konnte genutzt. Doch selbst jetzt noch, zwanzig Jahre später, habe ich das Gefühl, ihn in meiner Nähe zu haben. So, als wäre er jederzeit bereit mich doch noch zu holen, sollte ich mein Versprechen eines Tages brechen.

Adventskalender 2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt