Jetzt sitze ich hier, in der Bushaltestelle, und warte. Ich habe das Gefühl, ich warte schon mein ganzes Leben. Nicht auf den perfekten Partner oder ein Wunder. Nein. Ich warte auf meinen Bus, meine Eltern und die Züge. Sicherlich schon seit ich in der fünften Klasse bin, warte ich auf meine Busse, die zwar extra für unsere Schule fahren, dafür aber auch nur zu bestimmten Zeiten. Morgens einer um halb sieben und nachmittags vier ab 13:20 Uhr.
Ich habe gerade den um 15:40 Uhr verpasst, der aber schon um 15:37 Uhr abgefahren ist. Vielleicht hätte ich auch einfach besser auf die Zeit achten sollen, dann wäre mir das nicht passiert. Doch was soll ich mich aufregen. Im Endeffekt warte ich doch so oder so.
Warten gehört zu meinem Leben dazu und dass wird sich vermutlich auch nie ändern. Irgendwann werde ich vielleicht Mal ein Date haben und mein Partner lässt mich warten. Oder ein Zug hat Verspätung und ich bekomme deswegen den direkten Anschlusszug nicht mehr. Ach moment, dass ist mir schon einmal passiert. Dumme Sache.
Aber ich warte schon so lange, da macht es nichts mehr aus wo, wann oder wie lange ich warten muss. Ich überstehe das. Mit Musik. Mit spielen. Mit lesen. Mit schreiben. Mit denken. Und da wird es gefährlich. Keiner sollte mich mit meinen Gedanken zu lange alleine lassen. Am Ende kann daraus nur etwas verrücktes, trauriges oder verstörendes entstehen. Beispiel dafür sind meine Geschichten. (Inception)
Na gut, so schlimm ist es vielleicht nicht mit meinen Gedanken, aber manchmal kommen da wirklich absurde Ideen zum Vorschein. Wie zum Beispiel der, wie es wäre in einer Welt zu leben, in der es jeden Namen nur einmal geben darf. Erschweren könnte man das noch damit, dass keiner in dieser Welt schreiben kann, weshalb eine unterschiedliche Schreibweise wie Jenni und Jenny nicht als zwei Namen zählen würde. Verrrückt oder? Solche Gedanken kommen mir ständig und vielleicht reichen die aus, um neue Geschichten zu schreiben.
Während ich über all das nachdenke schweift mein Blick ab und an auf die Straße. Ich bleibe nicht wirklich an etwas hängen. Aber die vorbeifahrenden Autos haben etwas beruhigendes an sich. Vielleicht spielt da auch der Gedanke mit rein, dass ich, wenn ich Autofahren könnte, nicht mehr warten müsste. Doch ich habe kein gutes Gefühl dabei ein, eine Tonne schweres, Blechungetüm auf der Straße zu bewegen, dessen Oberfläche schon ab einer einer Geschwindigkeit von 80 km/h tödlich wird. Nein. Das ist nichts für mich. Dann warte ich doch lieber weiter.
Gerade fährt ein Krankenwagen vorbei. Ich konnte ihn schon lange hören, bevor ich ihn überhaupt gesehen habe. Ich frage mich dann immer, wo die so schnell hin müssen? Sicherlich zu einem wichtigen Einsatz. Menschenleben müssen gerettet und Unfallopfer so schnell es geht ins Krankenhaus gefahren werden. Diese Menschen, also Ärzte und Sanitäter, kann ich nur bewundern. Sie tun ihr bestes, um Menschenleben zu bewahren. Ich könnte das nicht. Ich könnte nicht für das Leben anderer Verantwortlich sein. Nun ist der Krankenwagen schon nicht mehr zu hören. Aus den Augen aus dem Sinn.
Die Straßenlichter sind angegangen. Es wird aber auch immer früher dunkler. Das hat der Winter nun einmal so ansich. Wenn man morgens das Haus verlässt ist es dunkel und wenn man nach Hause zurück kommt auch. Gab es überhaupt einen Tag? Habe ich wirklich sieben Stunden auf meinem Hintern gesessen und dem langweiligen Lehrer zugehört, nur um dann doch genauso dumm wieder zurück zu fahren? Ja, so ist es.
Manchmal habe ich auch früher Schluss, doch dann heißt es ... Na? Ahnst du es schon? Genau, warten. Nach den ersten beiden Stunden Schluss? Warten bis der Bus nach der sechsten kommt. Erst in der fünften Stunde Unterricht? Zur ersten hinfahren und bis dahin warten. Es gibt kein ausschlafen, sondern nur frühes Aufstehen.
Man könnte annehmen, dass ich dadurch gelernt habe früher schlafen zu geben. Lustig, diese Vorstellung. Nein, ich habe es nicht gelernt. In all den Jahren habe ich es vielleicht ein paarmal geschafft so schlafen zu gehen, dass ich am nächsten Tag frisch und ausgeschlafen war. Das kann ich niemandem unterschieben, denn ich weiß, dass es meine eigene Schuld ist.
Doch es gibt sogar eine Bezeichnung dafür, wenn man Nachts länger wach bleibt, um ein Gefühl von Freiheit zu bekommen, die man am Tag nicht bekommen hat. Revenge Bedtime Procrastination. Wie der Name vermuten lässt, handelt es sich um eine gewisse Rache an der Schlafenzeit, in dem man das schlafen gehen hinauszögert, und dann das tut, was man tagsüber nicht machen konnte.
Ich glaube aber auch, dass Prokrastination im allgemeinen ein großes Problem von mir ist. Ich schiebe viel zu häufig etwas vor mir her und mache es dann erst kurz bevor es wirklich gemacht sein muss. Vielleicht ist das ja eine Auswirkung von dem ständigen Warten. Ich denke ich habe noch so viel Zeit, weil etwas ausfällt und ich ja noch im Bus Zeit hätte. Doch am Ende nutze ich die mir gegebene Zeit nicht, sondern lasse sie mit unnützen Aktivitäten verstreichen.
Mein Leben könnte so viel besser sein, wenn ich den Schweinehund in mir bezwingen könnte. Doch dieses Viech ist viel zu groß. Es starrt mich immer mit Wagenrädergroßen Augen an und ich kann nichts dagegen unternehmen. Die ersten Kapitel haben so gut funktioniert, doch inzwischen bin ich froh, überhaupt eins vor Mitternacht zu veröffentlichen. Es ist leichter sich das Leben von anderen zu überlegen und dazu etwas zu schreiben, wenn man Vorstellungen und Ideen von sich selbst einbringen kann.
Doch was passiert, wenn einem die Ideen ausgehen? Dann hofft man auf die nächste Inspiration und schreibt solange nur halbfertiges oder unbrauchbares. Doch wenn dann diese eine zündende Idee erst einmal geweckt ist, dann gibt es kein Halten mehr. Mir ist egal, wie lang das fertige Werk am Ende wird, solange es meinen Ansprüchen genügt und ich mich mit dem, was ich geschrieben habe wohl fühle. Das geht eigentlich ganz gut.
In der Zwischenzeit ist es immer dunkler geworden. Wenn mich jetzt jemand nach der Zeit fragen würde, ich hätte keine Antwort darauf. Es könnte, gemessen an der Dunkelheit des Himmels, 7 Uhr bis 16:30 Uhr sein, doch ohne eine Uhr würde ich es nicht genau wissen. Also sehe ich nach. Es ist 17:15 Uhr.
Der letzte Bus kommt gleich, also stelle ich mich sichtbar hin. Mir ist es schon passiert, dass mich der Bus nicht gesehen hat und ich dann noch länger auf meine Mutter warten musste. Dass war auch im Winter gewesen, doch es war noch kälter als heute. Heute ist es relativ erträglich. Zum Glück.
Während ich warte höre ich Musik, meine gesamten Lieder geshuffelt, also durcheinander. Häufiger als sonst skippe ich durch die Lieder, bis ich auf eins stoße, dass ich schon länger nicht gehört habe. Es ist immer wieder schön alte Songs zu hören, bei denen man schon vergessen hat, dass man sie überhaupt auf dem Handy hat.
Die Zeit ist weiter voran geschritten und der Bus hat fünf Minuten Verspätung. Nichts besonderes. Aber diese fünf Minuten hätten mir am Anfang viel Warterei erspart. Da kann man wohl nichts mehr ändern. Ist halt so. Trotzdem schiebe ich leichte Panik, da ich befürchte, der Bus würde gar nicht kommen. Doch dann sehe ich ihn auch schon herannahen.
Endlich komme ich nach Hause. Ich steige ein, setze mich auf die rechte Seite, letzter Zweier in der Reihe vor der Tür und schaue mich um. Um diese Uhrzeit ist keiner außer mir im Bus. Das ist auch normal. Nur selten sitzt noch eine weitere Person drin, doch heute eben nicht. Der Bus fährt los. Es ist die normale Strecke, die ich jedes Mal zurücklege, doch etwas ist anders.
Einige Zeit nachdem wir die Stadt verlassen haben, sollte ich normalerweise nur dunkle Umrisse von Bäumen und die aufscheinenden Lichter, der entgegenkommenden Autos sehen. Doch da waren auch gelbe und blaue blinkende Lichter. Der Bus fährt langsam an der Unfallstelle vorbei. Ich erkenne, durch die aufgestellten Leuchtscheinwerfer, den Bus, der im Straßengraben liegt.
Genau diesen Bus habe ich vor ein paar Stunden knapp verpasst. Ich weiß nicht wie es dem Busfahrer und den Schülern geht, aber ich hoffe, dass sie wohlauf sind. Wenn ich mir vorstelle, dass ich in diesem Bus hätte sitzen können, wird mir übel. Vielleicht ist warten doch nicht so schlimm.
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Adventskalender 2020
Short StoryEin Adventskalender für Menschen, die gerne traurige, übernatürliche oder verstörende Geschichten lesen. Kaum eine wird ein gutes Ende haben, bzw. ein Ende, dass halb traurig halb glücklich ist.