2. Türchen - Ein komisches Gefühl

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Ein drängendes Gefühl weckt mich aus einem traumlosen Schlaf. Ich liege auf dem Rücken. Meine Decke ist wohl von meinem Bett gefallen, denn ich spüre sie nicht auf mir. Trotzdem ist mir nicht kalt.

Dieses komische Gefühl intensiviert sich. Was ist das nur? Es schmerzt nicht, aber es verursacht ein Unwohlsein, welches ich noch nie zuvor gespürt habe. Mein Zimmer ist komplett in Dunkelheit gehüllt, als ich aufstehe, ohne mein kleines Nachtlicht anzuschalten. Das brauche ich auch nicht, da ich mich sehr gut in meiner Wohnung auskenne, selbst wenn ich nichts sehe. Wäre doch auch merkwürdig, wenn nicht.

Dieses Gefühl, ich kann es immer noch nicht bestimmen, wird jede Sekunde drängender. Könnte es sein, dass ich Durst habe? Wenn ja, dann spüre ich nicht dieses Kratzen im Hals, dass sich sonst immer als Begleiterscheinung einstellt. Was könnte es den sonst noch sein?

Ich gehe in die Küche und will mir ein Glas aus dem Schrank holen, doch meine Hand greift durch die Schranktür, anstatt sie zu öffnen. Erschrocken weiche ich zurück. Was zum Teufel war das? Ich versuche es noch einmal, doch das Ergebnis bleibt dasselbe. Verwirrt schlage ich probehalber auf die Tür, aber ich verletze mich nicht, ich spüre nichts. Panik steigt in mir auf, als ich realisiere, dass etwas hier ganz und gar nicht stimmen kann.

Warum kann ich nichts anfassen? Warum spüre ich nichts mehr? "WAS ZUR HÖLLE IST HIER LOS?" Ich schreie. Doch es kommt kein Ton aus meiner Kehle. Das darf doch nicht war sein! Bin ich Tod? Vielleicht träume ich auch nur. Was ist mit meinem Körper? Ich sehe an mir herunter, aber ich erkenne nichts. Das Licht ist zwar aus, aber meine Augen haben sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Darum konnte ich meine Hand deutlich sehen, aber warum meinen Körper nicht?

Ich renne in mein Zimmer und stoße mir dabei nicht, wie sonst üblich, meinen Zeh an der Kommode im Flur. Im Türrahmen halte ich an. Ich traue meinen Augen nicht. Da liege ich. In meinem Bett. Zugedeckt und reglos. Schlafe ich nur? Ich trete näher. Mein Körper bewegt sich nicht. Bin ich tot? Kniend setze ich mich vor mein Bett und beobachte noch genauer, ob sich mein Brustkorb hebt und senkt. Es passiert nichts. Mein Körper atmet nicht. Ich atme nicht. Ich lebe nicht mehr. Das heißt, ich bin ein Geist. Oder eine Seele?

Ich kann nichts anfassen. Kann ich durch Wände gehen? Mit Anlauf renne ich auf die Wand, welche mein Zimmer und das Badezimmer trennt, zu. Dann stehe ich vor dem Waschbecken. Ich bin gerade wirklich durch die Wand gelaufen. Soll ich mich nun freuen oder nicht? Ich kann mich nicht freuen. Mein Leben ist zu Ende.

Ich möchte weinen, aber es geht nicht. Ich möchte schreien, aber ich kann nicht. Ich möchte leben, aber meine Zeit ist um. Wie kann es passieren, dass man einfach stirbt? Muss man dafür nicht erfrieren, verbrennen, ersticken oder erstochen werden? Das ist mir nicht passiert. Ich bin eingeschlafen, aufgewacht und war tot. Wo und wann bin ich da bitte gestorben?

Ich begreife das einfach nicht. Wie kann ich das auch begreifen? Mir hat niemand gesagt, wie es sein würde nach dem Tod. Ich dachte, ich hätte noch so viel Zeit. 80 Jahre durchschnittliche Lebenserwartung und ich war noch nicht einmal bei der Hälfte.

Gibt es den Himmel und die Hölle wirklich? Wo gehöre ich dann hin? Ich war nicht wirklich gläubig, aber ich wurde getauft und hatte eine Konfirmation. Reicht das schon, um nicht in der Hölle zu landen? Allerdings war da auch diese eine Sache, die ich so gerne vergessen würde. Ich bereue es und kann es deshalb nicht vergessen. Wenn ich mich nicht mehr erinnere, dann höre ich auch auf zu bereuen. Zu bereuen, dass ich damals nichts gesagt habe. Das ich stumm war, als ich eigentlich hätte schreien müssen. Komme ich deswegen in die Hölle? Hat mir mein Schweigen von damals, endlose Qualen im Leben nach dem Tod beschert? Wenn das so wäre, warum bin ich dann noch bei mir zu Hause? Kommt mich niemand abholen? Oder haben mich die Helfer des Teufels einfach vergessen? Dann könnte ich doch einfach hier bleiben.

Ich muss nirgendwo mehr hin. Habe keine Verpflichtungen. Jedoch, meine Eltern werden traurig sein. Sich fragen, warum ich Tod bin. Hoffentlich glauben sie nicht, ich hätte mir selbst das Leben genommen. So etwas könnte ich ihnen niemals antun. Aber sie werden es nicht wissen. Ich kann ihnen keine Nachricht hinterlassen, mich nicht verabschieden. Ich werde sie nie wieder sehen.

Wie, verdammt nochmal, bin ich gestorben? Ich möchte nicht in ein Leben danach, wenn ich nicht einmal weiß, wie es geendet ist. Ich möchte nicht mit Ungewissheit gehen. Doch, habe ich eine andere Wahl? Eher nicht, denn wie soll ich, als Seele ohne Körper, meinen eigenen Tod aufklären? Ich verzweifle doch schon an einem 100 teiligen Puzzle.

Wenn mir sonst nichts bleibt, warum lege ich mich dann nicht einfach zurück in meinen Körper. Es gibt zwei mögliche Ausgänge für diesen Versuch. Entweder es passiert nichts und ich hänge einfach weiter meinen postmortem Gedanken nach, oder es passiert etwas. Was passieren könnte, weiß ich auch nicht. Aber alles wäre besser als weiter diesem Gedankenström ausgesetzt zu sein. Also gehe ich durch die Wand zurück in mein Zimmer, lege mich genau auf meinen schlafenden Körper und warte.

Wie lange muss ich warten, bis etwas passiert? Ich habe das Gefühl die Zeit vergeht nicht. Es sind bestimmt schon Stunden vergangen, zumindest fühlt es sich so an. Also doch? Es gibt kein Zurück in meinen Körper. Vielleicht ist das auch die Hölle. Zu wissen das man Tod ist und nicht tun kann, um das zu ändern. Nichts berühren, nichts fühlen. Da wäre es mir lieber, wenn es kein Leben nach dem Tod gäbe.

*biep* *biep* *biep* *biep* *biep*

Kann ich nicht in Frieden Tod sein? Wecker sei leise. Doch das biepen hört nicht auf. Selbst mit dem Wissen, dass ich ihn nicht zum Verstummen bringen kann, probiere ich es. Als jedoch meine Hand die glatte Oberfläche meines Smartphones berührt, schreckt sie zurück. Das kann doch nicht?! Doch. Ich kann mein Smartphone berühren, ich spüre die warme Decke auf meinen Beinen und fühle meine allmorgentliche Unlust, den Tag zu beginnen. Ich bin lebendig. Habe ich etwa doch nur geträumt? Wahrscheinlich.

Eine Nachricht erscheint auf dem Display meines Smartphones. 'Die Vorstellung Ihres Projekts ist heute fällig, bitte seien Sie nicht zu spät.' Jetzt wünsche ich mir wirklich Tod gewesen zu sein.

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