𝖾𝗂𝗇𝗌;

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𝗆𝗂𝗇 𝗒𝗈𝗈𝗇𝗀𝗂

Fuck. Wo war das verdammte Blatt für Physik? Ich hatte gestern zwei Stunden daran gesessen, ohne die Notizen würde ich heute im Unterricht untergehen...
Hektisch blätterte ich in meinem thematisch geordneten Ordner, voll mit säuberlich beschriebenen Blättern.
Wenn ich das jetzt verloren hatte... im nächsten Moment hatte ich das doppelseitige Notizblatt in der Hand.

Gott sei dank. Erleichtert ordnete ich es ganz vorne ein, um nachher im Unterricht nicht mehr suchen zu müssen.
Dann schob ich die Mappe zurück in meinen Rucksack, bedacht, meine Brotdose nicht zu verruckeln. Ich hatte für jede Doppelstunde ein Fach mit drei Mandarinenspalten, einer kleinen Handvoll Haselnüsse und einem von Mamas Haferkekse.
Gesund, aber genug Energie um konzentriert zu bleiben.

Ein schneller Blick auf die Uhr, bis zur nächsten Stunde hatte ich noch 9 Minuten und etwa 40 Sekunden.
Chemie und Physik direkt hintereinander, sowas hatte sich wohl ein absoluter Idiot ausgedacht.
Für mich keine große Hürde, aber ich wusste, dass der Arbeitswille meiner Mitschüler erheblich darunter litt.

Mit gerunzelter Stirn begutachtete ich den abgeschmorten Teil meines Pullovers. Mist, es war eins meiner Lieblingsoberteile gewesen.
Richtig kaputt war der Stoff nicht, aber man sah schon, dass er ungewollte Bekanntschaft mit einer Flamme gemacht hatte.
Heute war aber auch einfach nicht mein Tag.

Erst steckte Frau Schneider mich mit den vier Deppen in eine Gruppenarbeit, als wäre ich der Aufpasser vom Dienst. Sie hatte mich nie wirklich gemocht, obwohl ich der Vorzeigeschüler schlechthin war.
Sie mochte wohl einfach niemanden, verbitterte alte Frau.

Ich verstand schon, wieso Hoseok, Jimin, Taehyung und Jungkook so beliebt waren, sie schienen immer und überall Spaß zu haben und gute Laune zu verbreiten.
Die zwei jüngsten aus unserem Jahrgang und ihr blonder Kumpel waren ständige Begleiter von Jung Hoseok.
Immer war etwas los, es wurde gelacht und gewitzelt.

Die meisten anderen mochten die vier, sie waren irgendwie einfach sympathisch, aber nicht aufdringlich.
Auch wenn ich kein schlechtes Bild von ihnen hatte und selbst heimlich im Inneren über manche ihrer Witze schmunzeln musste, konnte ich sie in einer Gruppenarbeit überhaupt nicht gebrauchen.
Sie wussten leider nur zu gut, dass ich ihnen die ganze Arbeit vor die Nase schaffen würde, um meinen eigenen Erfolg durchzubringen.

Aber was mich beschäftigte, war Hoseoks seltsame Aktion vorhin.
Er war ganz nett, so war es nicht, aber ich war doch etwas überrascht gewesen, als er mir seine Hilfe angeboten hatte.
Und natürlich nicht zu vernachlässigen, dass er mich davor bewahrt hatte, meinen Pullover abzufackeln.

In Gedanken begutachtete ich mein Handgelenk, nach dem der Braunhaarige vorhin reflexartig gegriffen hatte.
Die Haut war offensichtlich in Ordnung, und doch hatte er einen Moment lang geprüft, dass ich okay war.
Für was?
Was war sein Gedanke dabei gewesen, beziehungsweise wieso hatte er an erster Stelle die Faxen mit seinen Kumpels unterbrochen, um sich mir zu widmen?

Nicht dass ich ihm entgegenkommen würde, ich hatte nichts für Freundschaften übrig. Falls es das war, was er erzielen wollte, keine Ahnung.
Freundschaften erhöhten nur das Risiko, abgelenkt vom Wesentlichen zu werden.
Ich wollte schließlich einen Abischnitt haben, der sich sehen ließ, auf keinen Fall schlechter als der von Hyung.
Seokjin Hyung hatte das Gymnasium mit einem Schnitt von 1,1 verlassen, das war mein Ziel. Wenn nicht sogar 1,0, aber leider hatte ich in den 17 Jahren meiner Lebenszeit gelernt zu berechnen, dass auch gelegentliche  Fehlschläge vorkamen.

Diese Fehlschläge verunsicherten mich, wie die 8 Punkte letztens in Deutsch. Ich hatte die Lektüre 2 Mal gelesen und mir sämtliche nötige Informationen dazu gemerkt, und trotzdem versagt.
Ich hasste so etwas.

Jeden Tag tat ich mein Bestes, arbeitete mir den Arsch ab, um stets perfekt vorbereitet zu sein.
Planung war der Schlüssel zum Erfolg, 90% der Probleme könnten mit fehlerfreier Organisation gelöst oder sogar im Vorneherein umgangen werden.

Schon als Kind hatte ich gelernt, Chaos zu vermeiden.
Chaos brachte Unglück, die richtige Planung war der einzige Weg, jenem zu entweichen.
Jeden Schritt für die nächsten paar Jahre hatte ich schon geplant, wusste an welcher Universität ich mich einschreiben würde, was für einen Halbzeitjob ich annehmen würde.

Dabei würden Freunde mich nur von meinen Zielen abbringen.
Und erst Recht eine Beziehung.
Die allermeisten hier hatten schon mindestens eine dieser peinlichen Schul-Liebesdramen durchlebt, manche sogar mit Erfolg.
Doch im Endeffekt kam immer Chaos dabei raus, verletzte Menschen und provozierte den Verlust eines klaren Ziels.
Also garantiert nichts für mich.

Und das wusste hier auch jeder. Wir koexistierten, sie in ihrer Welt, ich in meiner. Keiner von denen hatte eine Ahnung wer ich war, für was ich mir hier das alles gab.
Und das war auch gut so, sie ließen mich in Frieden, ich sie.

Also warum versuchte dieser Hoseok dann jetzt auf einmal, mit mir in Berührung zu geraten? Was war sein Plan dahinter?

Mit einem Seufzen ließ ich mich auf der kalten Bank in der hinteren Ecke des Schulhofs nieder, meinem Platz.
Es war nicht besonders schön hier, weshalb die wenigsten meinen Winkel als Pausenplatz erkoren.
Für mich war es perfekt, nicht zu laut, wenig Trubel, genug Platz für mich allein.

Konzentriert überflog ich die Physik-Notizen nochmal, während ich einige Haselnüsse kaute.

"Hey, stören wir?"
Verwirrt hob ich den Kopf, nicht darauf vorbereitet, angesprochen zu werden.
Mit vollem Mund und großen Augen sah ich zu Hoseok auf, der mit einem freundlichen Lächeln vor mir stand, die Hände in den Jackentaschen.
Seine Kumpels hatte er wohl auch mitgeschleppt, die ein paar Schritte hinter ihm zu warten schienen.

"Ähm...", mehr fiel mir nicht ein, außerdem hatte ich immer noch mindestens vier Haselnüsse im Mund.
"Nur ganz kurz. Iss ruhig weiter, lass dich nicht stören."

Ohne zu Fragen schob Hoseok sachte meinen Rucksack zur Seite, um ein langes Bein über die lehnenlose Bank zu schwingen, sodass er rittlings da saß und mich direkt ansah.
Nicht gerade begeistert kaute ich weiter, sah ihn emotionslos an.

Was sollte das denn bitte jetzt werden?

"Also. Wegen Chemie."
Aha. Chemie. Vermutlich hatte er sich doch entschieden, hundert Prozent der Arbeit mir zu überlassen und wollte sichergehen, dass ich ihn und die anderen auch ja nicht im Stich ließ.

𝘂𝗻𝗽𝗿𝗲𝗱𝗶𝗰𝘁𝗮𝗯𝗹𝗲 ; 𝘀𝗼𝗽𝗲Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt