Kapitel 27: Korsaren

266 16 2
                                    

Der Tote sagte nichts und Aragorn erhielt als Antwort lediglich ein hämisches Lachen, das von den Wänden der Höhle zurückgeworfen wurde.

Ivriniel sah, wie die Toten um sie herum immer durchscheinender wurden.

"Ihr habt mein Wort!", rief Aragorn. "Kämpft und ich befreie euch aus diesem lebenden Tod" Was sagt ihr?"

Er erhielt keine Antwort und auch der letzte grünliche Schimmer verblasste und gab den ungehinderten Blick auf die Felswand dahinter wieder frei.

"Bleibt hier, ihr Verräter!" Wut war in Gimlis Stimme zu hören.

Sie waren umsonst hergekommen. Die Eidbrecher würden nicht für sie kämpfen. Wer sollte es stattdessen tun?

Noch bevor sie diesen Gedanken zu Ende denken konnte, ging ein Beben durch das Gestein. Rasch drehte sie sich dem großen Tor entgegen, von wo die Veränderung ausging. Es war ihr, als seien die schweren Flügel in Bewegung geraten. Das Tor öffnete sich langsam und behäbig und Ivriniel konnte etwas erkennen, das den Raum dahinter vollkommen ausfüllte, bis es mit einem Mal wie eine riesige Flutwelle auf sie zu raste.

"Raus!", hörte sie Aragorn rufen, als sie sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.

Sie lief schnell, doch war sie nicht schnell genug. Es kostete sie einiges an Mühe, auf den Beinen zu bleiben, als die Welle sie mit all ihrer furchtbaren Kraft erwischte. Das Gefühl von Ekel brandete in ihr auf und ließ sie nicht mehr los. Sie stand in einem Meer aus Totenschädeln. Sie musste hier raus. Vor sich sah sie Legolas und Aragorn bereits dem Ausgang zustreben und hinter ihr erkannte sie Gimli, der aufgrund seiner geringen Körpergröße Mühe hatte, den Kopf nicht zwischen den Schädeln verschwinden zu lassen. Ivriniel hastete auf ihn zu, packte ihn unter den Achseln und hob ihn hoch. Er beschwerte sich zwar nach bester Zwergenmanier, aber etwas in seiner Stimme verriet auch unausgesprochene Dankbarkeit. Schließlich musste er den Toten nun nicht mehr auf Augenhöhe begegnen. Trotz dessen, dass Gimli nicht gerade leicht war und sie sehr aufpassen musste, nicht auf den Schädeln, die gelegentlich unter ihren Füßen knackten, auszurutschen und zu stürzen, kam sie zügig voran. Was immer auch die Toten noch geplant hatten, um sie davon abzuhalten, aus der Höhle wieder hinauszugelangen, sie würde nicht abwarten, es herauszufinden.

Je weiter sie sich vom Tor entfernte, desto weniger Schädel lagen auf dem Boden herum verteilt. Als sie nur noch kniehoch in der fürchterlichen Masse stand, stellte sie Gimli auf seine Füße zurück, damit er sich mit aller Würde, die er aufbringen konnte, allein durch die Totenschädel wühlen konnte.

Sie behielt Aragorn und Legolas vor sich immer fest im Auge, damit sie sich nicht verlor in dem Wirrwarr der Gänge. Aragorn schien auch diesmal zu wissen, wo sie entlanggehen mussten, denn schon bald sah sie durch einen hohen Spalt in der Felswand Tageslicht schimmern. Erleichterung durchflutete sie, als sie dort hindurch trat und endlich im Freien stand. Wie gern hätte sie den Tod von ihrer Haut geschrubbt, doch auch wenn sie interessanterweise direkt neben einem großen Fluss wieder hinaus ins Tageslicht getreten waren, war das keine Option, denn auf dem Wasser schwammen in einiger Entfernung Schiffe - eine ganze Korsarenflotte - und die Flaggen, die die hohen Masten im sanften Wind umspielten, trugen das Zeichen Mordors.

Neben ihr ging Aragorn in die Knie. Er raufte sich die Haare und sein ganzer Körper strömte das bittere Gefühl der Enttäuschung aus. Sie waren zu wenige. Sie würden es nicht schaffen, die Linien des Bösen zu durchbrechen, um Gondor im Kampf beizustehen. Sie hatten nicht genügend Männer und die, die hätten helfen sollen, versperrten sich dem Gedanken so grundlegend, dass sie sie sogar mit einer Flutwelle ihrer eigenen Schädel verabschiedet hatten.

Legolas legte Aragorn die Hand auf die Schulter. Natürlich würden sie kämpfen und wenn es sein musste, dann würde die Verstärkung eben nur aus ihnen vier bestehen. So sehr wie Ivriniel gelernt hatte, in seine Fähigkeiten zu vertrauen, schaffte sie es dennoch nicht, sich selbst zu überzeugen, dass sie gegen das Böse würden ankommen können. Es lag in der Natur eines jeden lebenden Wesens, dass es Energie benötigte und selbst wenn sie wusste, dass sie selbst vermutlich länger kämpfen konnte als jeder Mensch und dass Legolas Mordor mindestens doppelt so lange würde standhalten können, war ihr auch klar, dass die Erschöpfung auch ihn schließlich kampfunfähig machen würde. Und dann würde der Feind immer noch genügend Truppen zur Verfügung haben, um Gondor einzunehmen.

Sie drehte sich um, als sie die Macht hinter sich spürte und aus dem Nichts materialisierte sich in der rauen Felswand die grünliche, durchscheinende Gestalt des Toten.

"Wir kämpfen", verkündete er und verschwand wieder.

Hätte sie das Gefühl der Erleichterung beschreiben sollen, das mit diesen Worten durch ihren Körper floss, sie hätte es nicht gekonnt, so sehr übermannte es sie und sie erkannte in den Gesichtern ihrer Gefährten, dass es ihnen genauso ging.

Der Fluss trug die Korsarenschiffe weiter auf sie zu und sie ließen die ersten an sich vorbeigleiten, ehe sie hinter dem Stein, der ihnen Deckung geboten hatte, hervorkamen.

"Ihr dürft nicht weiter. Ihr werdet Gondor nicht betreten", machte Aragorn die Bootsleute auf sie aufmerksam.

Zuvor hatten sie eine kleine Diskussion geführt. Gimli, Legolas und Ivriniel waren sich einig gewesen, dass es am meisten Eindruck machen und ihren Standpunkt am besten vertreten würde, wenn sie die Korsaren mit einigen freundlich gemeinten Pfeilen zwischen die Augen zu begrüßen, aber Aragorn hatte ihnen eine Chance geben wollen, auch wenn Legolas angemerkt hatte, die Bootsleute seien bereits dem Dunkel verfallen und würden an ihm festhalten bis in den Tod. Sie hatten sich also auf einen Mittelweg geeinigt: Erst reden, dann schießen, was Gimli nicht weiter als mit einem missmutigen Grummeln kommentiert hatte.

"Wer seid ihr, dass ihr uns den Zugang verwehren könnt?", wollte ein Korsar, scheinbar der Wortführer, wissen.

"Legolas, schicke dem Bootsmann einen Warnschuss neben sein Ohr", sagte Aragorn und Legolas legte an.

"Nicht daneben schießen", warnte Gimli.

Soweit gehörte alles zum Plan. Was jedoch nicht dazu gehörte, war, dass Gimli, den Ivriniel nach seiner Äußerung ganz besonders im Auge behielt, in dem Moment, als Legolas den Pfeil von der Sehne ließ, den Bogen anstieß, sodass das Geschoss von seiner ursprünglichen Bahn abgelenkt wurde und dem Korsaren in der Brust stecken blieb, woraufhin dieser den Pfeil begutachtete, einige unsichere Schritte machte und schließlich das Gleichgewicht verlor, nicht sonderlich elegant im Wasser landete und nicht wieder auftauchte.

"Oh tja, so schnell kann's gehen", sagte Gimli mit Unschuldsmiene, als Aragorn und Legolas ihn mit einem tadelnden Blick bedachten.

Er hatte den ganzen schönen Plan vom Verhandlungen führen zunichte gemacht. Dennoch musste Ivriniel sich eingestehen, dass sie nicht allzu traurig darüber war. Sie wollte ihre neu rekrutierte Armee der Toten gerne einmal in Aktion erlebt haben, bevor sie sich in der Schlacht auf sie verlassen musste. Gimli schien es ähnlich zu gehen.

"Bereit machen zum Entern!", rief er vergnügt, womit er sich einen zweiten tadelnden Blick von Aragorn einhandelte, den er allerdings ein weiteres Mal ignorierte.

"Ha, wir sollen geentert werden? Von wem und welcher Streitmacht?", höhnte ein Korsar, der die Position des ersten nahtlos übernommen hatte.

Ivriniel hörte dreckiges Lachen von den Booten zu ihnen hinüberschallen und sie verstand es. Immerhin war da eine ganze Flotte von ihnen gegen zwei Elben, einen Zwerg und einen Menschen, aber sie wussten nicht, was Ivriniel wusste und das brachte ihr ein kleines Lächeln auf die Lippen.

"Dieser Streitmacht", rief Aragorn zu den Korsaren hinüber und aus der Felswand heraus ergoss sich die gesamte Armee der Toten über das Wasser und bedeckte die Schiffe mit ihren grünlichen Leibern. Ivrninel hatte gerade einmal die Zeit gehabt, sechs Pfeile in raschem Tempo hintereinander auf die Besatzungsmitglieder des ihr am nächsten gelegenen Schiffes abzufeuern, als sich Schweigen über dem Fluss breit machte. An Bord der Boote regte sich nichts mehr. Die Toten hatten sie überrannt. Sie warf einen Blick zu Gimli hinüber, der anerkennend nickte.

"Saubere Arbeit", sagte er. "Worauf warten wir? Stechen wir in See."

Sternenlicht - Legolas FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt