Kapitel 43

3.1K 224 11
                                    

Belle

Der Morgen brach an und noch ehe die Wolken sich vollständig verzogen hatten, die Sonne sich allmählich blicken ließ, war ich bereits hellwach gewesen und starrte gedankenlos Löcher in die Luft. Es war wunderlich, der Wald jagte mir keine Angst mehr ein, weder bei Tageslicht, noch bei Nacht. Unwillkürlich fragte ich mich, wann ich aufgehört hatte mich vor sowas zu fürchten.

Ich konnte mich nur wage an Zeiten erinnern, in denen ich den Wald auch wirklich bewandert hatte. Vielleicht war ich das letzte Mal neun oder so gewesen. Es war einer der seltenen Tage, die ich mit meiner Mutter, sowohl mit meinem Vater gemeinsam verbracht hatte. Sie hatten kaum Zeit. Und wenn sie es hatten, dann meistens nicht zur gleichen Zeit wie der andere Partner. Und jene selteneren Tage, an denen beide Zeit für mich hatten, vergrub ich tief in meinem Gedächtnis, wohlwissend, dass der nächste gemeinsame Tag noch weit weg anstand.

Damals hatte ich nicht viel mit einer Kamera anfangen können, habe nicht genügend Fotos gemacht wie ich es mir heute gewünscht hätte. Es blieb größtenteils in meinem Kopf. Nur das ein oder andere Foto, welche von meinem Dad gemacht wurden, hingen vereinzelt an meinen vier Wänden. Im Palast hatte sie Dad längst von überall entfernen lassen. Vielleicht weil er den Anblick nicht ertrug, aber vielleicht auch um Platz für neue Erinnerungen mit seiner neuen Frau zu schaffen. Dass er mich nicht wenigstens gefragt hatte, mich um Erlaubnis gebeten hatte diese wichtigen Momente aus unserem zuhause zu entnehmen, zeigte wieder wie wenig ihm meine Meinung bedeutete. Wie wenig er sich aus mir eigentlich machte.

Hätte ich jetzt ein Fotoapparat zur Verfügung würde ich nicht nur das wunderschöne Himmelsbild einfangen, sondern auch den darunter sitzenden jungen Mann mit den markanten Gesichtszügen, den Blick stets prüfend in den Wald gerichtet. Ob er wusste wie gut er in diesen Wald passte? Ob ihm bewusst war, dass der Wald nicht vor ihm zurückwich? Dass es im Wald niemanden gab, der ihn verurteilte, der ihm den Tod wünschte?

Shane schlief noch immer, aber ich wusste, dass das nicht der Grund für Jacks Verzögerung war. Ich wusste, dass es ihm nichts ausmachen würde, Shane aus seinem schönen Schlaf zu reissen und ihn weiter pausenlos hinter sich her schlurfen zu lassen. Das wusste ich, aber mehr nicht.

Meine Augen huschten über den roten Sicherheitsmann, dem es nichts auszumachen schien, angefesselt an einem Baum zu schlafen. Sein Kopf hing schief, was später sicherlich für Nackenbeschwerden sorgen würde. Er tat mir jetzt schon leid.

Dann suchten meine Augen nach dem Farblosen, der komischerweise nicht auf seinem ursprünglichen Platz zu finden war. Wann hatte er sich von hier entfernt?

Neugierig stand auch ich auf und ging zur Stelle, wo ich ihn das letzte Mal, vor nicht mal fünf Minuten, gesehen hatte. Von da aus blickte ich mich in alle Richtungen um und folgte schließlich dem einzigen Weg, den er gegangen sein könnte ohne von mir bemerkt zu werden. Und meine Vermutung bestätigte sich als ich ihn an einem kleinen Teich, die Füße ins Wasser getaucht, entdeckte. Er saß mit dem Rücken zu mir auf dem Gras und schien mit etwas auf seinem Schoß beschäftigt zu sein.

Ich blieb in unmittelbarer Nähe stehen und wog meine Optionen ab. Sich neben ihn setzen oder wieder Kehrt machen?

Da ich wirklich nicht in der Stimmung war, abfällige Bemerkungen und weitere Anschuldigen auf mich zu nehmen, drehte ich mich um. Aber da hielt mich seine Stimme auf. »Du kennst wirklich keine Angst oder? Oder so etwas wie Rückhalt.«

Erschrocken hielt ich in meinem Gang inne und drehte mich überrascht zu ihm. Ich hatte keinen Mucks von mir gegeben. Wie hatte er mich überhaupt bemerkt?

Erst im Nachhinein kam seine Beleidigung bei mir an. Empört riss ich den Mund auf, bereit zurück zu feuern, da war er bereits aufgestanden und kam auf mich zu geschlendert.

Wütend schloss ich den Mund wieder. Welche Laus war ihm denn jetzt wieder über die Leber gelaufen, dass er seine schlechte Laune wieder an mir rauslassen musste? Sah ich aus wie ein Ventil, bei dem er einfach mal so, dir nichts mir nichts, Dampf ablassen konnte?

Er zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch als er genau vor mir, einen Schritt weit, zum Stehen kam.

»Vor was sollte ich denn Angst haben?« Meine Augen funkelten, zeigten meine Wut, zeigten, dass ich heute keine Lust auf eine weitere Auseinandersetzung hatte.

»Das musst du wissen.«

Ich verstand nicht.

Er schnaubte gereizt. »Auf wessen Seite stehst du eigentlich? Ich dachte immer, dass du auf der Seite der Roten wärst. Selbstverständlich, denn immerhin bist du eine Violette. Also warum habe ich manchmal trotzdem das Gefühl das wäre nicht so?«

Mein Mund verwandelte sich in nur einem Wimpernschlag in eine Wüste. Es war dünnes Eis, auf das wir uns zubewegten. Ein falsches Wort von mir könnte mich entlarven. War es besser, nichts zu sagen?

»Du belügst uns. Und das von Anfang an. Das war mir bereits bewusst, aber trotzdem hat es mich irgendwie...« Er suchte nach den richtigen Wörtern. »getroffen als ich erfahren habe, dass du der roten Familie näher stehst als deine andere Kollegin. Wir haben dich etliche Male gefragt, ich habe dich gefragt ob du eine höhere Position beziehst, aber du hast verneint. Hast gelogen. Das Offensichtliche bestritten.«

Nicht zu wissen worauf er hinaus wollte und wo dieses Gespräch enden würde, jagten mir eine Heidenangst ein. Diese Ungewissheit zerrte an jedem Nerv in meinem Körper, jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken.

Jack merkte schnell, dass ich nicht vorhatte, es zu bestreiten oder sonst etwas dagegen anzusetzen, also fuhr er fort. Nahm mein Schweigen als Bestätigung auf. »Aber sag mir wie. Wie kann so jemand wie du für so einen abscheulichen Mann arbeiten? Wie kannst du für jemanden arbeiten, der Menschen nach seinem Willen herumkommandiert, sie jagt und sie den verschiedensten Foltermethoden aussetzt?« Vielleicht irrte ich mich, aber ich sah neben Verwirrung und Wut auch Verzweiflung in Jacks Augen. »Wie kannst du für so jemanden arbeiten und gleichzeitig das Gesicht verziehen, wenn du seinen Werken höchstpersönlich begegnest? Wie kannst du von Freiheit und unfairer Behandlung sprechen, wenn du doch für den Mann arbeitest, der das alles überhaupt in die Wege geleitet hat?« Er atmete tief durch. »Wer bist du, Belle?«

Er sprach von meinem Vater als wäre er ein Monster. Er sprach von den Farblosen im Krankenhaus als wäre es das Werk meines Vaters gewesen.

Mein Herz schlug mir laut in den Ohren. Das Pochen, das durch meine Adern pulsierte, sehnte sich danach ihm die Wahrheit zu sagen. Zu sagen wer ich wirklich war. Dass ich Belle Night, die gesuchte Rote Prinzessin, die Tochter des unbarmherzigen Mannes, die Tochter des Feindes war...

Aber dann würde sich sein Blick ändern. Er würde mich hassen. Er würde mich für etwas hassen, das nicht in meiner Macht lag. Für etwas, das ich nicht einfach von heute auf morgen an mir ändern konnte. Oder jemals ändern konnte. In meinen Adern floss das Blut, das sein schreckliches Schicksal besiegelt hatte. Das Blut, das in mir rann, war vielleicht für den Tod seiner Familie und seiner Freunde verantwortlich. Und das konnte ich ihm nicht sagen. Ich könnte es nicht ertragen noch mehr Hass auf mich zu ziehen. Der Hass, die Wut, die er jetzt für mich übrig hatte, wäre nichts im Vergleich zu dem was er für mich empfinden würde, nachdem er das alles erst einmal in Erfahrung gebracht hatte. Es wäre viel persönlicher.

»Du hast recht.«, sagte ich schluckend. »Ich bin keine einfache Bedienstete im Palast.«

Seine Augen verlangten nach mehr Informationen, nach der Wahrheit, aber die konnte ich ihm nicht geben. Und das erkannte er.

»Tut mir leid, Jack, aber ich kann es dir nicht verraten. Kann dir nicht mehr über mich sagen. Wenn ich das tue...« Ich packte so viel Ehrlichkeit und Mitgefühl in meinen Blick wie möglich. »Dann gäbe es für mich kein gutes Ende.«

Vielleicht, wenn er alle Puzzleteile zusammenfügte, verstand er. Aber sein Blick galt meinem violetten Armband, die Stirn gerunzelt. Das war also das Einzige, was ihn davon abhielt, seinen Gedanken zu Ende zu führen. Die Farbe meines Armbands hielt ihn davon ab, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

Ich ließ die Schultern sinken als er wortlos an mir vorbeiging.

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt