Kapitel 6

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Belle

Als Kind liebte ich es durch den Wald zu spazieren, auf Bäume zu klettern und der Natur dann von oben zuzusehen. Von oben schien alles so, als würde mich nichts von alldem, was da unten geschah, betreffen. Denn so war es doch auch, oder nicht? Nur von Bäumen und dem pfeifenden Wind umgeben, hatte ich das Gefühl der Unantastbarkeit. Ich kletterte erst dann wieder runter, wenn meine Mutter jemanden nach mir schickte, um mich zum Essen zu rufen.

Viele Freunde hatte ich nicht, aber mit den Wenigen, die ich hatte, verbrachte ich meine ganze Kindheit. Doch wie jedes andere Kind, hatte auch ich den naiven Wunsch, so schnell wie möglich erwachsen zu werden. So schnell wie möglich groß zu werden, so schnell wie möglich eigene Entscheidungen zu fällen, so schnell wie möglich Geld zu verdienen. Hätte nicht gedacht, dass alles viel schneller passieren würde. Wer hätte als Kind je gedacht, dass das Erwachsenwerden einem alles nehmen wird, was man nicht wiedererlangen konnte?

Auch wenn ich mit allem aufwuchs, das sich ein Kinderherz nur wünschen konnte, traf ich einmal auf ein Mädchen aus der Außenwelt, das nicht das gleiche Glück hatte wie ich. Sogar ganz im Gegenteil. Ihre Familie hatte nichts, während ich alles hatte.

Ich konnte mich glücklich schätzen, dass es bei mir an nichts mangelte. Ich wollte ein Fahrrad, das bekam ich. Ich wollte ein Pferd, das bekam ich. Ich wollte sogar ein eigenes Stück Land. Auch das bekam ich. Einfach so. Einfach weil mein Vater sich das leisten und mir bieten konnte. Doch als ich nach meiner Mutter fragte, schaltete er ab. Er verdrückte sich, versuchte mich mit anderen überteuerten Geschenken abzulenken. Jetzt im Nachhinein war ich mir sicher, dass er nicht mich ablenkte, sondern sich selbst. Er konnte mit den größten Geschäftspartnern aus aller Welt verhandeln und seinen Willen überall durchziehen, aber er konnte es nicht ertragen, dass seine Tochter nach ihrer verstorbenen Mutter fragte. Er war ein starker und mächtiger Mann, aber im Endeffekt war auch er nur ein Mensch. Er hatte auch einst Eltern gehabt, die ihn so sehr liebten. Er hatte auch Schwierigkeiten. Er hatte nicht nur Höhepunkte im Leben, sondern auch Tiefpunkte. Und meine Mutter war eine davon.

In Angesicht der Tatsache, dass er es auch nicht geschafft hatte mich vor den Farblosen zu beschützen, gehörte dies auch zu einem seiner Tiefpunkte. Ich nahm seine ganzen Sicherheitsmaßnahmen auf leichte Schulter. Jetzt bezahlte ich dafür.

»Bitte«, hörte ich mich selbst betteln. »Bitte lasst uns gehen, wir sind ganz normale Bürger.« Mir rinnen Schweißperlen über die Stirn als ich diese Worte aussprach.

Was wenn sie bereits wussten wer ich war und mich suchten? Was wenn sie diesen Angriff schon seit Monaten geplant hatten und mich nun holen kamen? Vielleicht hatten wir die ganze Zeit einen Spitzel im Palast, der meine Informationen rücksichtslos an die Farblosen übermittelt hatte?

Hinter dem Farblosen erschien gleich eine ganze Horde Männer. Sie trugen keine Masken. Sie hatten sie abgenommen. Und wir hatten nun ihre Gesichter gesehen. Toll! Und jeder, der nur einige Filme angeschaut hatte wusste, dass dies nicht gut für uns enden würde. Wir waren so gut wie tot.

»Wir sind doch nur ganz normale Bürger!«, versuchte ich es erneut und wischte mir über die Stirn und dann über die feuchten Wangen.

»Armbänder.«, trat einer hervor und kam uns unglaublich nahe. Ich hielt den Atem an. Noch nie war ich einem Farblosem so nah wie gerade in diesem Moment gewesen.

Nickend schob ich die Ärmel meines Mantels höher, um mein violettes Armband zu entblößen. Mit einem knappen Blick darauf nickte er und schenkte seine Aufmerksamkeit nun Mia, die sich seit deren Auftritt kein einziges Mal gerührt hatte. Ich könnte schwören sie atmete nicht einmal. Und auch als der Farblose sie erneut aufforderte, ihr Armband zu zeigen, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper. Stumme Tränen liefen ihr über die Wangen.

Red Princess - Die Suche nach der Roten PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt