Jazy ließ sich im Zug mir gegenüber in den Sitz fallen. Obwohl sie eine Maske trug, meinte ich zu erkennen, dass sie böse schaute und Grimassen schnitt. Das ließ sie wie eine tickende Bombe, kurz vor dem Losgehen, wirken. Ich entschied mich, vorerst nicht zu reagieren. Sie nahm mir die Entscheidung ohnehin ab.
„Lass mich raten: Ben hat dir versprochen, sich wegen deiner Eltern zu erkundigen. Im Gegenzug musst du irgendein dubioses Päckchen aus einer windigen Wohnung abholen."
Ich starrte sie an und bemühte mich, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Was?", fragte ich, um Zeit zu gewinnen. Sie war der Sache schon recht nahe gekommen. Aber wie kam sie bloß darauf, ich würde für Ben irgendwelche Botengänge erledigen?
Unvermutet stürzte sie sich auf mich und schob unsere Masken unters Kinn. Nachdem wir die einzigen Gäste im Abteil waren, würde davon schon nicht die Welt untergehen. Ich zog sie näher an mich ran, während sie eine bequeme Position auf meinem Schoß suchte. Gerade als ich sie küssen wollte, riss sie sich wieder aus meiner Umarmung und setzte sich zurück auf ihren Platz. In der rechten Hand hielt sie ein kleines weißes Blatt Papier, mit dem sie nun herumfuchtelte.
Wieder starrte ich sie überrascht an, völlig verblüfft von ihrer Fingerfertigkeit.
Sie sah sich den Zettel aus der Nähe an. „Was ist das für eine Telefonnummer?"
Ich seufzte.
Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und begann die Nummer einzutippen. Ich versuchte, ihr den Zettel wegzunehmen, doch sie drehte sich schnell weg.
„Jazy! Hör auf damit!"
Sie verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen. Eine steile Falte teilte ihre Stirn über der Nasenwurzel. Als ich keine Anstalten machte, ihr zu verraten, was sie wissen wollte, tippte sie weiter die Ziffern von dem Zettel ab. Bevor sie die Verbindung herstellen konnte, nahm ich ihr das Telefon aus der Hand. Sie hatte meine Attacke nicht kommen sehen und schrie wütend auf. Jetzt zerknüllte sie den Zettel in ihrer Hand und stopfte ihn sich in den Mund.
„Ich schluck ihn runter!", drohte sie undeutlich.
Die Sache geriet außer Kontrolle. Sie sah göttlich aus. Wie eine Rachegöttin zwar, aber dennoch unbesiegbar. Also gab ich mich geschlagen.
„Na schön, du hast recht. Ben hat mir eine Kopie jener Polizeiakte besorgt, die zum Vermisstenfall meiner Eltern angelegt wurde. Er hat sie mir in einer Datei geschickt. Diese Nummer gehört jemandem von der Archivstelle, der davon weiß. Falls ich irgendwelche Rückfragen haben sollte. Und Ben tat es gänzlich, ohne dass ich ihm einen Gefallen dafür schulde." Zumindest hatte ich es so verstanden. Ich hoffte, ich würde mich durch die Annahme seines Dienstes nicht in eine wie auch immer geartete Abhängigkeit zu diesem Kerl begeben.
Langsam fischte Jazy den in Mitleidenschaft gezogenen Zettel aus ihrem Mund und glättete ihn. Sie überprüfte, ob die Ziffern noch lesbar waren, und reichte ihn mir dann zurück.
„Und warum nicht gleich?" Sie kreiste mit rollenden Augen leicht den Kopf.
„Ben sagte, dass niemand davon erfahren dürfe. So etwas ist illegal. Jemand könnte dafür ganz schön eine auf den Deckel bekommen."
„Mann!" Sie ließ genervt die Schultern sinken. „Damit hat er doch sicher nicht mich gemeint."
Eigentlich war es zwar genauso gewesen. Ben hatte extra gesagt, ich sollte es keinem Menschen verraten, schon gar nicht Jazy, aber er hatte ja auch nicht ahnen können, wie sehr sie mich deswegen unter Druck setzen würde.
Im nächsten Bahnhof stiegen zwei Jugendliche ein und wir setzten unsere Masken wieder ordentlich auf. Ich sah Jazy an, dass ihr mehrere Fragen auf der Zunge brannten, doch sie hielt sich zurück. Nach einigen Minuten holte sie ihre Ohrstöpsel aus der Handtasche und setzte sie auf.

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Lockdown-Liebe
RomanceChe hat seine Traumfrau gefunden. Jazy lebt sogar mit ihm in einer WG. Das einzige Problem bei der Sache, was kann er tun, damit sie ihn nicht für einen verklemmten Spinner hält? Als ob das nicht schwierig genug wäre, wird der nationale Lockdown ver...