Jazy - Das verdächtige Opfer

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Ungewohnte Helligkeit weckte mich, bevor mein Handywecker gedachte, seiner Aufgabe nachzukommen. Meine Lungen gierten nach einem tiefen Atemzug und meine Kiefermuskeln wollten einfach nur ausgiebig gähnen. Wir hatten vergessen, die Jalousien in Ches Schlafzimmer zu schließen. Er schlief tief und fest, obwohl sein Gesicht dem Fenster zugewandt war. Hinter ihm stand eine aufgestellte schwarz lackierte Holzkiste, die er als Nachttisch verwendete. Auf einem eingezogenen Brett lag ein Buch. „Know yourself – Die Geheimnisse meines Erfolges" von Bruce Lee. Es wirkte neu.

Mein Blick wanderte weiter, zu dem Hochzeitsfoto von Ches Eltern, das in einem goldenen Rahmen auf der Kiste stand. Sie sahen nett aus. Schade, dass ich sie nie kennenlernen würde. Schade, dass Che sie nie richtig kennengelernt hatte.

Ches Vater trug einen sommerlichen blauen Anzug mit dunkelblauer Fliege. Er war blond und man konnte am Foto erkennen, dass er sein Haar normalerweise nicht so ordentlich zurückgegelt trug. Dafür wirkte es zu widerspenstig. Auch sein Dreitagesbart ließ ihn als eher legeren Typ erscheinen. Zwischen seinen Schneidezähnen befand sich eine kleine Lücke. Wie bei einem Suchbild versuchte ich, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem schlafenden Sohn auszumachen. Eigentlich verband sie nur die Farbe der Augen. Und der Schalk, der darin aufblitzte. Vielleicht noch die Sommersprossen, die sich bei seinem Vater aber dezent im gesamten Gesicht verteilten. Ich liebte diese Sommersprossen an Che.

Als Kind hatte ich es geliebt, Bilder zu malen, die erst sichtbar wurden, wenn man Punkte mit Linien verband. Die Reihenfolge ergab sich aus Zahlen, die daneben standen. Wunderschöne Geschichten entstanden dabei aus einem scheinbaren Wirrwarr vieler Tupfen. Jetzt versuchte ich zu erraten, was die Pünktchen darstellen sollten. Sie verteilten sich unregelmäßig über Ches flache, breite Nase. Er hatte sie eindeutig von seiner Mutter geerbt. Sie zogen sich über die Oberseite seiner kantigen Wangen bis zu den äußeren Augenwinkeln. Ein paar verstreute Sprenkel fanden sich zwischen den Augenbrauen und am Kinn. Auch inmitten seines mickrigen Oberlippenbartes und den sinnlich geschwungenen Lippen blitzten ein paar von den dunklen Klecksen hervor.

Ches Mutter trug ein weißes sommerliches Umstandsbrautkleid im Hippie-Style. Meine Mutter würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber die junge Frau auf dem Foto hielt einen bunten Blumenstrauß und lächelte glücklich in die Kamera. Eine Hand ihres Bräutigams lag gemeinsam mit ihren auf dem dicken Bauch. Ihr Scheitel, den auf dem Foto ein süßer Spitzenschleier zierte, endete in Höhe der Schultern von Ches Vater.

Wahrscheinlich würde gleich einer unserer Wecker losgehen. Wir hatten heute beide Online-Kurse im Terminkalender vermerkt. Schade eigentlich. Obwohl Che zu scheu gewesen war, den Anfang in unserer Beziehung zu machen, harmonierten wir auf körperlicher Ebene perfekt miteinander. Er war empfänglich für alle meine phantasievollen Anregungen und ich bekam alles von ihm, was ich mir wünschte. Und ich konnte einfach nicht genug von ihm bekommen!

Eine ernste Linie zog sich senkrecht über seine Nasenwurzel. Sicher ließ ihn die Anspannung, wegen der Nachforschungen nach seinen Eltern, nicht einmal im Schlaf los. Der Arme!

Es war so weit. Mein Alarm ging los. Dezentes Meeresrauschen und leises Krächzen von Möwen breiteten sich im Raum aus. Ich gähnte noch einmal ausgiebig und begann mich zu strecken. Dann drehte ich mich um und wollte den Alarm abstellen. Zwei starke Arme umfingen meine Hüfte und hielten mich zurück.

„Che! Wir haben heute Kurse!"

Er antwortete nichts. Vielleicht war er noch gar nicht richtig wach? Ich drehte mich wieder zu ihm um. Seine Augen waren noch immer geschlossen, aber an einem kleinen Grübchen an der Seite seines Mundes erkannte ich, dass er mich neckte.

„Ich weiß, dass du wach bist!"

Er seufzte ertappt auf und öffnete die Augen. Schelmisch blitzten sie mich an.

Lockdown-LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt