Anfangs hatte es immer geheißen, der Lockdown ginge bis Ostern. Tatsächlich dauerte er aber plötzlich bis nach Ostern! Bis zum 13. April, um genau zu sein. Und es sah nicht danach aus, als würde das Leben ab da wieder in gewohnten Bahnen verlaufen. Die Uni machte jedenfalls mit Distance Learning weiter und auch die Schulen blieben zumindest bis Mitte Mai geschlossen. Das Tanzen konnte ich mir weiterhin abschminken. Wenigstens hatte ich Che überreden können, am Wochenende wieder zu mir nach Hause zu fahren. Es tat so gut, ein wenig raus in die Natur zu kommen. In der Großstadt fiel mir manchmal die Decke auf den Kopf. Er sah ein, dass es am Land viel einfacher war, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. Außerdem war niemand in meiner Familie krank geworden. Wir waren alle seit drei Wochen abgeschottet, naja, mehr oder weniger. Ich dachte kurz an die unerfreuliche Situation mit Ice.
Für eine frische Beziehung war dieser Lockdown so etwas wie eine Bewährungsprobe. Che und ich hatten überhaupt keine Probleme. Bei Mama und Ben sah es da sicher anders aus. Wahrscheinlich strickte sie ihm schon Schals in Form eines Galgenstricks.
Ich saß auf meinem Yogakissen und versuchte wieder einmal zu meditieren. Tausende Gedanken geisterten mir durch den Kopf, ohne dass ich es abstellen konnte. Sonja hat mir viele Tipps geschickt, wie man richtig entschleunigte. Etwas nur für sich machte.
Es half alles nichts. Und da war es auch schon wieder...
Es war unmöglich, nicht ständig daran zu denken. Es war, als hätte man mich in einen leeren Raum eingesperrt, in dem es nur mich und einen roten Knopf gibt. Und das Letzte, was jemand zu mir gesagt hatte, wäre: „Egal was passiert, drücke nie den roten Knopf Jazy!" Dieses Telefonat mit der Frau aus dem Polizeibericht war gerade mein roter Knopf.
Jazy! Jetzt reiß dich doch einmal zusammen! Ich zwang mich dazu, an etwas anderes zu denken. Im Grunde genommen war ich ja gechillt. Die Pandemie war für mich noch immer total surreal. Hörte man zufällig einmal die Nachrichten, kam man sich vor wie in einem Endzeit-Horror-Film. Nur dass es die Realität war.
In einem Jahr werden wir mit einem Corona-Bier in der Hand an diese verrückte Zeit zurückdenken, beruhigte ich mich. Das wird sein wie bei 9/11. Jeder wird sich genau erinnern können, wie es für ihn persönlich gewesen war.
Wie viel wird dann wirklich anders sein als vor der Krise? Wie viele Menschen nutzten tatsächlich die einmalige Möglichkeit, aus dem Karussell auszusteigen und die alten Gewohnheiten zu überdenken? Utopie war schon immer mein Ding. In meiner Fantasie konnte die Welt endlich einmal aufatmen, weil die Menschheit einen Gang runterschalten musste. Ja, diese Zeit hatte etwas Entschleunigendes. Auch, wenn ich mich wie in einer Nussschale fühlte, die auf einem stürmischen Ozean dahin trieb. Gut, dass ich nicht gerne Pläne schmiedete. Die Krise machte sowieso alle gleich wieder zunichte.
„Einatmen – ausatmen!", befahl ich mir noch einmal. Im Hintergrund spielte meine Meditations-Playlist ein Mantra. Vielleicht sollte ich eines von den Weihrauch-Räucherstäbchen anzünden, um endlich entspannen zu können?
Ich öffnete die Augen und rappelte mich hoch. In meinem Schlafzimmer kramte ich nach den Räucherstäbchen. Ich fand das Päckchen, aber es war leer. Mist! In der Küche stand noch der Karton mit Mamas Räucherschale. So würde es auch gehen. Ich ging zum Küchenschrank und inspizierte meine Kräutermischungen. „Yippie!" Ich hielt meinen lange gesuchten Lieblingshaargummi hoch. Er hatte sich irgendwie zwischen die Gläser dort verirrt.
„Na, mein Engel?" Che hatte sich von seiner Arbeit losgerissen und stand auf einmal hinter mir.
Triumphierend hielt ich ihm mein Fundstück vor die Nase. Sicher hundert Mal hatte ich ihn in den letzten Tagen danach gefragt.
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Lockdown-Liebe
Storie d'amoreChe hat seine Traumfrau gefunden. Jazy lebt sogar mit ihm in einer WG. Das einzige Problem bei der Sache, was kann er tun, damit sie ihn nicht für einen verklemmten Spinner hält? Als ob das nicht schwierig genug wäre, wird der nationale Lockdown ver...