MChe - King of Pop

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Jazy brachte mich noch um den Verstand! Gestern Abend, als sie plötzlich im Bademantel vor mir gestanden war und ich beinahe bis zu ihrem Bauchnabel hatte sehen können, hatte sie mich derart verlockend angesehen, dass ich, ohne es zu wollen, annahm, ich würde die Szene nur träumen. Minuten später, in meinem Bett, wiederholte mein Kopfkino diesen Augenblick immer und immer wieder. Ich hatte meinen Kopf gegen das Kopfkissen geschlagen und mir die Haare gerauft. Wie blöd konnte man überhaupt sein?
Und jetzt, wie sie mich mit ihrem kehligen Lachen einen Angsthasen schimpfte. Sie hatte so recht damit! Sie hatte unter mir gelegen und mich schon wieder so herausfordernd angesehen. Und was tat ich? Ich war wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen, statt sie zu küssen. Durfte man in Zeiten von MeToo überhaupt eine Frau ungefragt küssen?

Nun gut, diese Frau hätte sich mit einem gezielten Tritt in meine Weichteile gewehrt, wenn sie es nicht gewollt hätte, so viel war sicher. Doch nicht die Angst vor diesem eventuellen Schmerz hatte mich abgehalten. Es war mehr die Angst, es zu vermasseln. Lieber würde ich sie noch Jahre lang aus der Ferne anhimmeln, als einmal von ihr abgewiesen zu werden. Das Wichtigste für mich war, dass sie immer bei mir blieb. Wenn auch nur in meinen Träumen. Ich wollte keinen Flirt. Ich wollte ihr Herz!

Um mich von meinen trübsinnigen Gedanken abzulenken, betrachtete ich die Menschen in der U-Bahn genauer. Ich stellte fest, dass die Mehrheit der Fahrgäste zur kolportierten Risikogruppe zu rechnen war. Jetzt, da die Schulen und Unis geschlossen waren und auch viele der beruflichen Pendler wegfielen, sah man sie vermehrt. Die Spuren der überalterten Gesellschaft des Landes. Jeder vierte Bürger war über 60 Jahre alt, das waren in Österreich rund 2,2 Millionen Menschen. Auch wenn die Lebenserwartung in der Stadt nicht ganz so hoch war wie am Land. Zählte man noch Risikopatienten, Menschen mit Diabetes, Herz-Kreislauf-Kranke und jene, die einfach viel zu dick waren, dazu, kam man schnell auf 40 Prozent der Gesamtbevölkerung, die ernsthaft von diesem Virus bedroht wurden. Unbekümmert lüpften die Senioren nebeneinandersitzend beim Plaudern ihren Mundschutz. Sicher war das notwendig. Saß das dritte Gebiss schlecht und kam dann noch die Altersschwerhörigkeit hinzu, verhallten die Worte sonst in unverständlichem Konsonanten-Kauderwelsch. Warum der Mann zwei Reihen vor uns allerdings zum Niesen seinen Mundschutz hinunterschob, entzog sich meinem Verständnis. Überhaupt schienen sich die Männer mit den Anweisungen schwerer zu tun. Sie gaben sich die Hände und klopfen sich auf die Schulter, als hätten sie in den letzten Wochen keine Nachrichten gehört.Zumindest Jazy schien wieder gut gelaunt zu sein. Ihre Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen, während sie Dehnungsübungen an der Haltestange machte. Sie zog, nur an den Händen baumelnd, die Beine zum Bauch. Ihr weißes Trikot sah aus, als wäre eine Horde Rinder darüber gelaufen. Ich zupfte zum dritten Mal einen vertrockneten Grashalm von ihrer Schulter.

Mein Blick schweifte zurück zu den todgeweihten Risikopersonen. Viele könnten ihr Leben wahrscheinlich leicht retten, wenn sie nur bereit wären, ihre Lebensgewohnheiten zu ändern. Solange jeder sofort zu den massenhaft verfügbaren Medikamenten auf Rezept der Krankenkasse griff und sich wegen jedem Zipperlein unters Messer legte, sah ich da aber wenig Licht am Horizont. Hieß ja auch Krankenschein und nicht Gesundenschein.

Wir verließen die U-Bahn und gingen zurück zur Wohnung. Jazy hielt ihr Gesicht in die Sonne und ich passte auf, dass sie nicht gegen irgendwelche Hindernisse lief. Zumindest Autos waren derzeit nicht einmal halb so viele unterwegs als sonst um diese Zeit. Auch der eingeschränkte Flugverkehr machte sich bemerkbar. Der Himmel war makellos blau.

„Manche meiner Freunde sagen, Corona sei nicht gefährlicher als die Grippe." Jazy ließ den Satz mit einem halben Fragezeichen in der Luft schweben.

Ich wollte eigentlich nicht darüber diskutieren, noch nicht einmal mit Jazy. Ich war immer schon der Meinung, dass Neutralität eine super Sache sei. „Ja, habe ich auch schon gehört", sagte ich ausweichend.

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