➸10. Mondschein

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Ein junges Mädchen lief müde durch die Straßen.

Sie war warm eingepackt in eine dicke Winterjacke und ein flauschiger, dunkelroter Schal umhüllte sie.
Die ebenfalls dunkelrote Mütze war ihr etwas über die Augen gerutscht, doch sie dachte gar nicht daran, die gerade erst aufgewärmten Hände aus den Jackentaschen zu holen, um die Mütze zu richten.

Es war schon dämmrig und die Straßenlaternen warfen ihren flackernden Schein auf den Weg.

Kleine, unscheinbare Schneeflocken tänzelten durch die kühle Luft.

Es schien ihnen nichts auszumachen, dass sie keine Zuschauer hatten, niemand, vor denen sie sich verbeugen konnten, niemand, der ihre Tanzeinlagen wertschätzte, geschweige denn, für sie klatschte.

Sie kümmerten sich nicht darum, sondern wirbelten weiter leicht durch die Luft.

Vielleicht ließ genau dies sie ja so leicht und unbeschwert fröhlich sein.

Keine Erwartungen, die sie erfüllen müssen.

Kein Druck, der sie nach unten riss.

Niemand, der sie zusammenschrie, wenn sie zu spät kamen.

Die Schneeflocken hatten es gut. Keiner rechnete mit ihnen und wenn sie dann doch kamen, war die Freude über die angenehme Überraschung noch viel größer.

Der warmer Duft von Schokopudding stieg dem Mädchen in die Nase, während sie weiterlief.

Sie kam an einigen Läden vorbei, dessen Schaufenster weihnachtlich mit Mistelzweigen, Lorbeerblättern, Sternen, Zuckerstangen und Lichterketten geschmückt waren.

In den Läden selbst mussten sie wohl eine angenehme, gemütliche Stimmung verbreiten, denn das Mädchen sah die Leute im Inneren scherzen, lachen und angeregt plaudern.

Sie selbst fühlte sich durch die dicken Scheiben, die zwischen ihr und dem gemütlichem Gefühl lagen, ausgeschlossen, als hätte man sie absichtlich in der klirrenden, auf der Haut schmerzenden Kälte gelassen.

Die alte Kirchturmuhr schlug sechs Uhr und erinnerte das Mädchen daran, dass sie weitermusste.

Sie ließ die Altstadt hinter sich, lief auch an den Häusern am Rande des Ortes vorbei, machte auch an der in der Dunkelheit schemenhaft in den Himmel ragenden Mühle keinen Halt und eilte in den Wald.

Aus den Augenwinkeln sah sie einen Fuchs durch das Dickicht huschen.

Bestimmt war er auf Nahrungssuche; hoffte auf ein paar Vögel, die sich trotz der Uhrzeit noch lautstark um ein Stück Toast stritten, und in ihrer Zankerei jegliche Vorsicht vergaßen.

Das Mädchen, das inzwischen vom hellen Schein des Mondes geleitet wurde, presste die Lippen aufeinander.

Doch dann blieb sie plötzlich stehen.

Sie wunderte sich selbst darüber, doch ihre Beine schienen ihr nicht mehr gehorchen zu wollen.

Sie blieb stehen und sog völlig außer Atem keuchend die schmerzend kalte Luft ein.

Ihr Blick fiel auf den Waldrand, der nur noch wenige Meter vor ihr lag, und langsam ging sie darauf zu.

Mit wenigen Schritten hatte sie den Wald in ihrem Rücken zurückgelassen und hatte nun freie Sicht auf das weite Feld vor ihr.

Der Mond brach erneut durch die Wolkendecke und ließ seinen matten Schein auf sie fallen, als wolle er auf sie aufpassen und sie an etwas erinnern.

Erinnern, dass das Leben kein Marathon war, den sie laufen musste.

Dass auch auf sie niemand wartete.

Dass sie es nicht nötig hatte, vor den schönen Dingen davonzulaufen.

Aus einem Impuls heraus, den sie selbst nicht verstand, ließ sie sich ins Feld; das weiche, einladene, hohe Gras sinken und betrachtete den Himmel.

Den Mond, der sie immer zuverlässig hütete wie ein Hirte seine Schafe.

Die Sterne, die ihr erst jetzt auffielen und die um die Wette funkelten, als wüssten sie, dass genug Menschen gerade zu ihnen aufschauten und sie fasziniert bewunderten.

Die dunklen Wolken, die inzwischen gänzlich aufgerissen waren und die Erde doch immer noch umhüllten, als seien sie eine Decke und wollten den kleinen blauen Planeten im Schlafe warmhalten.

Das Mädchen betrachtete all diese Dinge stumm, während sich ihr Herz langsam beruhigte und ihr Atem wieder seinen regelmäßigen Lauf fand.

Das Gefühl von Geborgenheit erfüllte das Mädchen und begann, sie trotz den niedrigen Temperaturen zu wärmen.

Und plötzlich hatten die Schneeflocken ihren Zuschauer, vor dem sie sich verbeugen konnten, der ihre Tanzeinlagen wertschätzte und der zu Ende ihrer Vorführung für sie klatschen würde.

One Shits äh ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt