➳ 25. Schieß niemals auf den Wolf

35 3 65
                                    

Tropf. Tropf. Tropf.
Nathan war auf dem bestem Wege, sich an das stetige Klatschen der Wassertropfen auf den Boden zu gewöhnen - gerade zu Komfort darin zu finden.
Nur der letzte Rest an Vernunft, den er in sich zusammenkratzen konnte, hielt ihn davon ab.

Gib deine Vorsicht nicht auf. Nicht hier.

Es gab wirklich bessere Orte dafür als dieser kühle Gang, in einer dunklen Nische kauernd zwischen kalten matt-grauen Steinen.
Das hier war kein Ort für Komfort und Ruhe. Hier wohnten Terror und Tod und der Wind trug losgelassene Hoffnungen und Moralvorstellungen mit sich hinaus.

Fast schon automatisch tasteten Nathans Finger nach der Pistole in seinem Gürtel, einfach nur, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Das kalte Eisen ließ das Blut in seinen Fingerspitzen pulsieren.
Nein, definitiv kein Ort für Ruhe.

"Entspann dich", zischte ihm Ezra eine scharfe Warnung ins Ohr.
Sein bester Freund stand direkt hinter ihm, ebenso wie er voller Vorsicht in die Schatten der finsteren Nische gedrückt.

Allein die Funken der brennende Fackel nicht weit von ihnen beleuchteten ihn genug, dass Nathan seine harten Gesichtskonturen und seine lockigen dunklen Haare ausmachen konnte, während sein Schatten hinter ihm nervös tanzte.

"Ich bin entspannt", knurrte Nathan leise, fuhr sich gleichzeitig aber verlegen durch das blonde Haar.

Er mochte es nicht, dass Ezra jede seiner kleinsten Bewegungen richtig deuten konnte. Es erinnerte ihn immer wieder daran, wie leicht er - wie leicht alles - auffliegen konnte.
Würde sein Freund ihn wirklich richtig kennen, wäre einer von ihnen ein toter Mann.

Ezra verdrehte die Augen und gab ihm einen kleinen Schubser. "Los jetzt."

Nachdem sie sich noch ein weiteres Mal vergewissert hatten, dass keine der Wachen einer außerordentliche Patrouille einlegte, huschten sie lautlos aus ihrem Versteck.
Hätte jemand sie in diesem Moment beobachtet, er hätte nicht sagen können, ob er tatsächlich zwei junge Männer gesehen hätte oder ihm der dämmrige Schein der Fackeln doch nur einen Streich gespielt hatte.

Sie mussten um keine drei Ecken biegen, als sie schon vor eben der eisernen Tür standen, die sie gesucht hatten.
Ein großes silbernes Schloss verwehrte jedem Unbefugten den Eintritt.

"Viel Spaß" Ezra verbeugte sich und ließ Nathan den Vortritt.

Dieser schnaubte und zog einen Dietrich aus seiner Tasche. Er hatte dieses Handwerk nicht umsonst jahrelang gelernt. Tatsächlich brauchte er nur wenige Sekunden, bis das undurchbrechbar wirkende Schloss mit einem leisen Klicken den Weg freigab.

Ezra nahm ihn den Dietrich ab, damit er die Hände frei hatte.

Nicht ohne eine gewisse Kraftanstrengung zog Nathan die schwere Tür auf.
Was sich ihm bot, war eine leere Zelle. "Was-?", entfuhr es ihm und er wandte sich zu Ezra um.

Dieser war nahe an ihn herangetreten, blickte ihm in die Augen.
"Was ein Zufall", flüsterte er und der Hauch seines Atems an Nathans Wange verpasste ihm eine Gänsehaut.

Er verkniff sich einen Laut, als Ezra anfing, seinen Hals zu küssen und ihn langsam in den leeren Raum zu drängen.

"Ezra", stieß er schließlich doch aus. "Das ist jetzt nicht die Zeit dafür."

Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich ein wenig von ihrem Auftrag abbringen ließen.
Aber diesmal war es anders, dieser Auftrag war wichtiger als alle anderen je zuvor.
Sie befanden sich gerade nicht in irgendeiner lumpigen Gasse, sondern in dem sichersten Gefängnis der Stadt und sollten nicht zu lange bleiben.

Sie beide wurden wegen genug Straftaten gesucht, als dass man sie nicht sofort hier einbuchten würde, wenn man sie in die Finger bekäm.

Etwas funkelte in Ezras Augen - etwas, das Nathan nicht kannte. War es Triumph?
"Wusstest du, dass du im Schlaf redest?", fragte er und trat wieder einige Schritte zurück, stand nun im Türrahmen.

"Was?" Nathan verstand nicht.

"Schieß niemals auf den Wolf", zitierte Ezra ihr Gang-Motto.
Er lächelte, doch ein Anflug von Trauer spiegelte sich darin wider.
"Ich wusste von Anfang an, dass du ein Spion bist, aber ich dachte, du änderst deine Meinung nochmal. Du hattest genug Zeit. Herzlichen Glückwunsch, du bist in unsere Falle getappt. Ich werde deiner Verlobten liebe Grüße ausrichten, vielleicht möchte sie ja zu deiner Hinrichtung kommen."

Er knallte die Tür zu, bevor Nathans Schrei seine Kehle verließ. "EZRA!"

Ein Schlüssel drehte sich und schloss ihn ein in der nun nicht mehr leeren Zelle. Allein in der Finsternis.

Schieß niemals auf Wolf.

One Shits äh ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt