One Shits äh Shots

➸1. 30 Sekunden

Ich zähle herunter.

30 Sekunden.

Gleich ist es entschieden.

29 Sekunden.

Gleich werde ich sehen, ob ich den Schritt mache.
Ob ich damit alles wegwerfe, was ich je hatte, was ich erreicht habe, was mich zum Lachen, Glücklichsein, Weinen und Schreien gebracht hat.

26 Sekunden.

Oder ob ich doch wieder umkehren, dem allem hier den Rücken zudrehen und wieder nach Hause gehen werde. Ich würde so tun, als wäre nie etwas geschehen, als wäre alles in Ordnung, als würde es mir gutgehen.

23 Sekunden.

Doch mir ging es nicht gut. Ich war leer. Das Lächeln, das ich jeden Tag auf dem Gesicht trug, war eine Fassade, die so schlecht gebaut war, dass sie bröckelte und man die Baufirma eigentlich verklagen müsste.

Ich quälte mich jeden Tag, doch solange keiner es bemerkte, konnte jeder sein eigenes Scheißleben leben und glücklich sein.
Vielleicht wollte es auch einfach keiner merken.

20 Sekunden.

Ich starre nach unten.
Die Lichter der vielen Autos flimmern durch die Nacht und vor mir kann ich die Skyline der Stadt erkennen, die bunt und hell glitzert.
Fast hätte die Atmosphäre zauberhaft sein können, so beruhigend und klar wirkt sie auf mich.
Das Ziehen in meinem Bauch beruhigt sich etwas.

17 Sekunden.

Ich trete noch ein wenig näher an den Abgrund heran.
Ich fühle mich allein in dieser Nacht, während mir der Wind kalt durch die Haare weht. Ich fröstel.
Trotzdem ziehe ich meine Jacke aus, sodass ich nun im weißen Tshirt an der Spitze der Stadt stehe.
Keinen der hunderttausenden Einwohner kümmert es, dass ich jetzt hier auf diesem Hochhaus stehe.

14 Sekunden.

Vielleicht würden sie in der Zeitung etwas darüber lesen; eine kleine Randnotiz, kaum zu sehen zwischen den neusten Angeboten und Rabatten und dem Artikel über das WM-Finale.
Vielleicht würde es im Radio kurz erwähnt werden, direkt zwischen "Savage Love", Billie Eilish und den Berichten über das Wetter und den Stau auf der A7.

10 Sekunden.

Aber keiner würde sich darum kümmern.
Alle würden es mit halbem Ohr mitkriegen, während sie im Auto sitzen und damit beschäftigt sind, das streitende Geschwisterpaar auf dem Rücksitz zu ermahnen.

Alle würden es kurz überfliegen, bevor sie sich wieder ihrem Kaffee widmen und sich darüber aufregen, dass die Benzinpreise immer höher steigen und Mats Hummels den Ball an den Pfosten anstatt ins Netz getreten hatte, was ihnen den Sieg gekostet hatte.

8 Sekunden.

Ich wünschte, die Tür würde aufgehen und jemand würde auf das Dach kommen.
Jemand, dem die Benzinpreise und die WM egal waren.

7 Sekunden.

Jemand, den es stören würde, wenn ich alles aufgebe.

6 Sekunden.

Doch es bleibt still und man hört nur die Autos in der Ferne hupen.

5 Sekunden.

Eine Tür geht hinter mir auf und jemand kommt auf das Dach gehetzt.

4 Sekunden.

Ein erschrockener Schrei hallt durch die Nacht.

3 Sekunden.

Ich schließe die Augen.

2 Sekunden.

"Nein! Ich liebe dich!"
Zu spät. Es ist zu spät für so etwas.

1 Sekunde.

Ich trete noch ein wenig vor. Ich höre jemand losrennen.

Wer weiß, vielleicht werde ich auch aufgefangen, kann einfach davonfliegen wie ein Vogel.

0 Sekunden.

Ich lasse mich fallen.
Gebe mich der Schwerelosigkeit hin, spüre die Freiheit, während ich die Arme ausbreite. Lasse mich von der Nacht verschlucken, um niemals wieder daraus aufzutauchen.

Ich konnte niemals fliegen.