➸6. Charaktertod

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Es tut mir leid, aber deine Geschichte schreibt es dir vor.
Meine Gedanken haben sie bereits geformt.

Ich könnte sie verändern, das stimmt.

Aber dein Schicksal ist dir vorherbestimmt und es wäre nicht richtig, dich vor ihm zu beschützen.

Es wäre egoistisch, falsch und ein solcher Einschnitt in die Geschichte, die geschrieben wird.
Die Geschichte, zu der du dazugehörst und in der du eine wichtige Rolle gespielt hast.

Vielleicht rammt dir jemand einen Dolch ins Herz - dein Feind, dein Freund oder dein Bruder?

Vielleicht ertrinkst du, niemand kann dich retten - nicht dein Vater, deine Freundin, dein Verbündeter?

Vielleicht wird es tragisch - die Welt: weint sie, ist sie geschockt, trauert?

Vielleicht wird es eine Erleichterung - hast du einen Verrat begangen, der die Herzen hat schwer werden lassen?

Ich verstehe deinen Blick, kann nachvollziehen, wieso solch ein trauriger, schwermütiger Blick in deinen Augen glänzt.

Schau mich nicht so an, es wäre falsch, dein Schicksal zu ändern.

Ich hoffe, du erkennst den entschuldigenden Ausdruck in meinem Gesicht, während ich die Hände auf das Papier senke und langsam anfange, dem Stift in meiner Hand Nutzen zu verleihen.

Vorsichtig, bedacht, ehrfürchtig lasse ich die Worte auf dem Papier erscheinen - bedeutungsvolle, schwere Worte.

Ich schreibe und schreibe.

Die Buchstaben, die zurückbleiben, werden für immer dort stehen bleiben und sind nicht mehr zu ändern.

Ich setze den letzten Punkt und schaue wieder auf, schaue dich an.

Du lächelst - traurig, die Angst nicht mehr bemerkbar. Ist sie dennoch noch da?

Du weißt nun, wie es dir ergehen wird.

Ob dir ein Dolch ins Herz gerammt wird - vom Feind, vom Freund, vom Bruder.

Ob du ertrinkst und dich keiner retten kann - nicht Vater, nicht Freundin, nicht Verbündeter.

Ob es tragisch wird - beweint, betrauert, vermisst von der Welt.

Ob Erleichterung eintritt - ein unverzeihbarer Verrat deinerseits.

Ich lege den Stift hin, lasse die Worte sacken.

Ich schaue dir dabei zu, wie du langsam verblasst - immer noch schwermütig lächelnd.

Es wäre falsch gewesen, dich zu retten; falsch gewesen, dein Schicksal zu verändern; falsch gewesen, deinen flehenden Augen nachzugeben.

Die Worte sind geschrieben und sie haben dich mitgenommen.

In den bereits beschriebenen Seiten lebst du weiter, zwischen den Worten wird man dich immer finden, hinter den Buchstaben wirst du mich immer begrüßen.

Die nächsten Seiten werden dir jedoch verwehrt bleiben.

Du sagtest, es müsse so sein.
Du sagtest, ich sei die Autorin.
Du sagtest, dir bleibe keine Wahl.

Nein, du hast keine Wahl gehabt. Ich hatte eine.

Es tut mir leid, aber deine Geschichte schreibt es dir vor.

One Shits äh ShotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt