4 - Paul

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„PAUL!", schreit mein bester Freund vor meiner Zimmertür und ich schrecke hoch. Schon wieder. Muss ich jetzt immer so geweckt werden? Ich habe heute wirklich keine Lust schon wieder zum Gericht zu fahren.
Die Tür geht auf und Leon stürmt herein.
„Wieso bist du nicht wach?"

Ich vergrabe mein Gesicht in meinem Kissen und stöhne: "Oh Leon, bitte nicht so laut. Ich hab' so Migräne!"
"Verarschst du mich? Wir müssen los!"
Ich stöhne erneut und verzerre mein Gesicht.
„Bitte Leon, ich weiß, dass du zum Gericht musst. Aber mir platzt gleich der Schädel. Ich habe vor zwei Stunden schon eine Tablette genommen und die hat nichts gebracht."

Jetzt sieht er besorgt aus. Gut.
Leon und ich kennen uns seit der Vorschule und er hatte in seinen Wachstumsschüben immer mit starker Migräne zu kämpfen.
"Scheiße, Paul. So schlimm?", fragt er nun mitleidig.
Ich nicke nur und kneife die Augen zusammen. Lichtempfindlichkeit und so.
"Okay, ich hole dir einen kühlen Waschlappen und am besten eine Schlafmaske oder sowas für die Augen." Hektisch beginnt er, hin und her zu laufen.
"Leon", stöhne ich.

"Ja? Musst du kotzen? Brauchst du einen Eimer?"
"Nein, du musst zum Gericht. Ich komm' klar."
Plötzlich fällt ihm ein, dass er ja einen Termin hat. "Oh, okay. Danke, Paul. Bleib' liegen und mach' die Augen zu. Ich melde mich später."
"Viel Glück, Leon. Und genieß' die Fahrt zum Café."
Fragend sieht er mich an.
„Woher willst du wissen, dass ich meinen Führerschein zurück bekomme?"
"Vertrau' mir, das wirst du."

Kaum höre ich ihn und Mia unten wegfahren, stehe ich auf und gehe in aller Ruhe duschen. Anschließend mache ich mir einen Kaffee und setze mich mit meinen Aufzeichnungen zu Analysis an den Küchentisch, um in Ruhe zu lernen. Selbst wenn sich dieser Tag noch öfter für mich wiederholen sollte, wenn ich irgendwann dieser Zeitschleife entkomme und dann die Arbeit nicht geschrieben habe, bin ich am Arsch.

Nachdem ich zwei Stunden gelernt habe, habe ich noch ausreichend Zeit, schon vor der Prüfung einkaufen zu gehen und spaziere zum Supermarkt. Die Regale sind frisch bestückt und ich finde hervorragende Äpfel für den Kuchen, den ich heute noch backen darf. Als ich den Supermarkt verlasse, fällt mir dieser Typ mit den dunklen Augen wieder ein. Irgendwie habe ich ihn jeden Tag gesehen, aber nicht immer in den gleichen Situationen. Natürlich kommt er jetzt nicht und rennt mich um, denn ich bin viel zu früh dran.

Während der Kuchen backt, lerne ich noch die letzten Formeln und mache mich schließlich auf den Weg, nachdem ich den Ofen ausgeschaltet habe.
Vor allen anderen betrete ich den Vorlesungssaal und suche mir einen Platz in der hintersten Reihe. Nach und nach füllt sich der Raum mit Studenten und schließlich kommt auch der Professor und verteilt die Aufgabenblätter. Heute habe ich einen Plan.

Drei Stunden später bin ich ziemlich zufrieden mit dem, was ich abgegeben habe und will schon gehen, als mir einfällt, dass draußen Jane auf mich wartet. Schnell greife ich mein Telefon, um meine Mutter anzurufen und Jane wieder mit der gleichen Methode wie gestern zu entkommen.

"Hallo Paul. Ich wollte dich auch gerade anrufen", antwortet meine Mutter beim ersten Klingeln.
"Das dachte ich mir fast, aber ich war schneller", lache ich.
"Ist alles okay bei dir?", fragt sie überrascht.
"Weil ich so gut gelaunt bin?"
"Ja, genau."
"Alles ist okay, Mom. Ich wollte dich auch noch nach diesem einen Rezept fragen..", plaudere ich weiter, während ich nach draußen gehe und schon die starrende Jane erblicke. Wie beim letzten Mal lächelt sie verständnisvoll und verkrümelt sich. Check. Zumindest fürs Erste.

Nachdem ich das Telefonat mit meiner Mutter beendet habe, schreibe ich einen Text an Emma.

Emma

Kuchen ist schon
gebacken. Komme
heute abend nicht
zu Nicoles Party.

Warum nicht?

Migräne. Und ich brauche
deine Hilfe.

Wobei? Bitte nicht schon
wieder eine Leiche..

Hahaha.. nein. Aber fast
so schlimm.

Paul, was ist los?

Jane.

Was ist mit Jane?

Sie ist nicht mein Typ.
Bitte erzähl mir nicht,
dass sie süß ist. Es funkt
nicht und ich brauche
deine Hilfe, sie loszuwerden.

Okay, ich überlege mir was.
Aber dafür hab ich was gut
bei dir.

Du bist meine
Lieblingsschwester!

Ich bin auch deine Einzige!

Erleichtert stecke ich mein Telefon ein und gehe nach Hause. Ich weiß jetzt schon, was Emma sich als Ausrede überlegen wird und ich habe nicht vor, anwesend zu sein, wenn alle meine Freunde und Leute, die ich nicht kenne, denken, ich wäre schwul.

Zu Hause lasse ich mich aufs Sofa fallen und überlege, was ich nun mit meinem freien Abend anfangen soll. Ich beschließe, mich mal wieder ein bisschen zu bewegen und ziehe mir meine Laufsachen an. Ich drehe zwei Runden im Park und genieße die abendliche Ruhe dort. Während ich laufe, denke ich unaufhörlich darüber nach, wie ich in diese mysteriöse Zeitschleife geraten bin.

Bin ich der Einzige, dem es so geht? Von meinen Freunden und Emma weiß ich, dass sie nichts davon mitbekommen. Alle haben sich jeden Tag so verhalten wie sonst auch, es sei denn, ich selbst habe etwas verändert. Die einzige Person, die komischer Weise immer an anderen Orten auftauchte, war dieser Typ mit den dunklen Augen.

Wo war der heute eigentlich?
Richtig, ich war nicht im Café und ich war nicht auf der Party. Und im Supermarkt war ich zu früh. Da heute erst das - kurz rechne ich nach - vierte Mal ist, dass ich diesen Freitag erlebe, kann ich mir nicht sicher sein, ob meine Theorie stimmt. Aber gestern machte er vor der Haustür von Nicole den Eindruck, als wolle er mit mir reden.
In meinem Kopf mache ich eine Liste mit Menschen, die vielleicht das Gleiche erfahren wie ich. Da steht nur der Typ mit den dunklen Augen. Hat er etwas damit zu tun?

Werde ich merken, wenn es die letzte Wiederholung ist? Was ist, wenn ich jetzt noch fünfhundert Wiederholungen vor mir habe und jedes Mal diese dumme Prüfung schreiben muss? Und jeden Tag von Leon geweckt werde. In meinem Kopf dreht sich alles. Grübelnd mache ich mich auf den Heimweg und falle nach einer heißen Dusche in mein Bett. Ich hoffe, dass morgen doch Samstag ist, aber mein Bauchgefühl sagt mir leise, dass das vermutlich nicht der Fall sein wird.

Wiederholungsfall | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt