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Kapitel Sechzehn
» Jeder hat eine Geschichte «

Dunkelheit erstreckte sich über die roten Ziegelsteindächer der kleinen und einfachen Einfamilienhäuser. Wir waren so weit von der nächstgrößeren Stadt entfernt, dass man jeden einzelnen Stern am Nachthimmel glitzern sehen konnte. Es war dunkler als sonst. Der Mond schien verschwunden zu sein.

"Und hier soll er sein?", fragte ich neugierig und schaute durch die Windschutzscheibe auf das schäbige Motel vor uns. Marcus zuckte ahnungslos mit den Achseln und warf einen Blick auf das kleine Blatt Papier, das in der Ablage vor dem Schaltknüppel lag. "Wir sind in der richtigen Stadt und es gibt hier nur zwei Motels...", murmelte er nachdenklich vor sich hin.

Nur im Erdgeschoss, wo ein älterer Mann an einem tresenartigen Tisch saß, brannte Licht. Das gesamte restliche Motel war eingehüllt in diese unheimliche Finsternis. Man konnte kaum die einzelnen Türen erkennen und auch die Straßenlaternen waren keine große Hilfe. Ich bezweifelte stark, dass unsere Zielperson sich in dieser heruntergekommenen Bude aufhielt. "Du denkst echt, dass ein Spion einer italienischen Eliteschule in so einer Bude pennt?"

Marcus legte das Blatt Papier zurück in das kleine Fach. Er lehnte sich vorne aufs Lenkrad und beobachtete das Gebäude. Er scannte es von oben bis unten. "Was sonst? Glaubst du die lassen einen Laufburschen im Four Seasons übernachten? Wir sind auch Laufburschen einer Eliteschule und haben nicht einmal ein Auto bekommen."

Ich schwieg. Marcus hatte recht. Ohne seine grenzenlose Dummheit und Leichtsinnigkeit hätten wir mit der Bahn bis zum Arsch der Welt fahren müssen. Es war also nicht ganz so weit hergeholt, dass sich der vermeintliche Spion in dieser Absteige herumtrieb.

"Was müssen die anderen machen? Wen beschatten die?" Diese Neugier packte mich wie aus dem Nichts. Plötzlich schwirrten mir dutzende Fragen durch den Kopf, die ich jedoch nicht alle auf einmal stellen konnte. Marcus zuckte wieder mit den Achseln und ich lachte leise. "Wieso frage ich dich überhaupt? Du kriegst doch im Unterricht selbst nie was mit." Seine Augen wurden groß und seine Kinnlade klappte nach unten. "Das ist eine grundlose Unterstellung!"

Ich legte den Kopf schief und musste schmunzeln. "Ich sehe doch, wie du jede Stunde irgendein Zeug in deinen Notizblock kritzelst..." Sein Blick veränderte es sich drastisch. Plötzlich war dieses freudige Funkeln verschwunden. Auf einmal wirkte er bedrückt. Nachdenklich rieb er sich die Schläfe und lehnte sich nach hinten in den Autositz. "Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten...", murmelte ich leise.

Marcus schüttelte beschwichtigend den Kopf, drehte diesen zu mir und schaute mich an. "Alles gut, es ist nur..." Er seufzte leise und trommelte mit drn Fingern gegen das Lenkrad. "...ich wäre niemals auf die Kings gegangen, hätte ich ein normales Leben gehabt." Seine Stimme klang gedämpft und schwer von Sorge. "Ich denke das wäre niemand von uns." Wieder verneinte er mit einem Kopfschütteln.

Wie aus dem Nichts veränderte sich die Stimmung in diesem kleinen Raum innerhalb des Autos. "Nein, ich meine...ich habe mich erst dazu entschieden auf der Kings Dominion zu bleiben, als ich wusste um was es auf dieser Schule ging." Nun war ich verwirrt. Ich dachte er sei hier, weil er keinen anderen Ausweg mehr sah und nicht mehr auf der Straße leben wollte. Ähnlich wie bei mir.

Natürlich hätte ich mich dazu entscheiden können davonzulaufen und nie wieder zurückzukehren, doch ich tat es nicht. Ich entschied mich dazu zu bleiben, obwohl ich wusste, was das Ziel dieser Ausbildung war. Und ehrlich gesagt wusste ich nicht, ob ich damit jemals fertig werden würde. Ich ging auf eine Schule, um zu lernen wie man anderen Menschen das Leben nimmt und das auch noch freiwillig – mehr oder weniger.

"Inwiefern?", fragte ich neugierig. Ich wusste beinahe nichts über Marcus, geschweige denn über jemand anderen, mit dem ich jeden Tag zusammen in einem Klassenzimmer saß. Etwas mehr über Marcus zu erfahren fühlte sich an wie ein wenig Normalität inzwischen diesem abgedrehtem Zeug, mit dem ich tag täglich zutun hatte. "Ich wollte bleiben, weil ich nur ein einziges Ziel hatte und noch immer habe...", murmelte er leise und schaute dabei nach vorne zu dem Motel. Ich verdrehte die Augen. "Muss man dir wirklich alles aus der Nase ziehen?"

"Ich will den Mann töten, der mir meine Familie genommen hat." Seine Stimme klang ernst und seine Augen hatten einen stechenden Ausdruck. Ich musste schlucken. "Es ist doch vollkommen normal, dass du dich an ihm rächen willst. Aber wieso brauchst du dafür die Kings?" Marcus drehte den Kopf wieder in meine Richtung.

Seine tiefgrünen Augen schimmerten in dem Licht der Straßenlaternen und seine Oberlippe zitterte leicht. Er war wütend. Scheinbar entfachte allein die Erinnerung an diesen Mann in ihm ein Feuer der Wut. "Weil es nicht so leicht ist diesen Mann zu töten...dafür braucht es weit mehr als Wut und Willenstärke. Es braucht Wissen, eine Menge Geschick und vor allem Mut", meinte er entschlossen.

Es war schwer diesen Ausdruck in seinen Augen zu beschreiben. Er war so voller Hass. "Wieso das? Ist er einer dieser Mafia-Typen? Oder ein Ninja-Turtle?", fragte ich und musste schmunzeln. Marcus hingegen blieb todernst. Er schüttelte den Kopf. "Er ist der Präsident."

Meine Augen wurden groß. Für einen Moment traute ich meinen Ohren nicht. "Du willst Reagan töten?" Marcus nickte zustimmend. Ich schluckte nervös und versuchte mich zu sammeln. Marcus wollte also den Präsident der vereinigten Staaten töten, was bestimmt schon viele vorhatten die sich mit solchen Dingen auskannten und dennoch hatte es bisher noch niemand geschafft. "Gut, seine Ansichten sind nicht immer die besten, aber was hat er mit dem Tod deiner Eltern zutun?"

Marcus seufzte leise und blickte stur auf das Lenkrad vor ihm. Er erzählte mir von dieser Irrenanstalt, die auf dem Hügel am Rande der Stadt stand. Sie wurde vor vielen Jahren aufgelassen, weil die Stadt sich ihre Erhaltung nicht mehr leisten konnte. Und anstatt die Insassen in eine andere Einrichtung zu verlegen, wurden sie freigelassen. Dutzend Wahnsinnige wurden einfach so auf die Menschheit losgelassen, daran konnte ich mich erinnern. Es kam wochenlang in den Nachrichten.

"Es gab eine Insassin...ich kann mich noch ganz genau an diesen irren Ausdruck in ihren Augen erinnern. Sie war hochgradig selbstmordgefährdet und litt an Schizophrenie. An diesem einen Tag hatten ihr die Stimmen in ihrem Kopf scheinbar gesagt sie solle vom Balkon der Anstalt springen..." Seine Stimme wurde immer dünner. Seine Finger zitterten und er presste die Lippen aufeinander.

Es schien fast so, als wollte er es krampfhaft vermeiden eine Träne zu vergießen. "...das mag jetzt vielleicht absurd klingen, aber als sie auf dem Boden aufschlug landete...sie landete auf meinen Eltern. Und bei ihrem Gewicht und dieser enormen Höhe war es so, als würde ein großer Flügel aus dem vierten Stock segeln und genau auf meine Eltern fallen."

Wieder musste ich den Kloß in meinem Hals hinunterschlucken. Marcus hatte recht, diese Geschichte klang absurd. So absurd, dass er sie sich niemals ausdenken hätte können. "Das...das tut mir leid..." Marcus schüttelte den Kopf. "Alles gut. Ich will einfach nur den Tod meiner Eltern rächen." Ich nickte verständnisvoll. Auch, wenn der Gedanke daran, jemanden das Leben zu nehmen, moralisch vollkommen unvertretbar war, konnte ich ihn verstehen.

Nach einer knappen Minute merkwürdiger Stille, drehte Marcus sich zu mir und fragte: "Und was ist deine Geschichte? Wieso bist du auf der Kings Dominion?" Leise lachend schüttelte ich den Kopf. Marcus hob die rechte Augenbraue. "Ich habe dir meine Geschichte erzählt. Es wäre nur fair, wenn du mir deine auch erzählst." Seufzend lehnte ich mich in den Autositz. "Ich habe keine Geschichte. Ich bin auf der Kings, weil ich das Leben auf der Straße satt hatte."

Marcus schüttelte sofort den Kopf. "Jeder hat eine Geschichte."

Ich musste an meine Schwester denken. Sie war der Grund, wieso ich mich letztendlich dazu entschieden hatte diese Ausbildung zu machen.

"Meine kleine Schwester...sie ist vor einem knappen halben Jahr verschwunden. Spurlos. Niemand hat etwas gesehen und es gab keinerlei Hinweise, weshalb die Polizei den Fall nach wenigen Wochen auf Eis legte..."

Marcus sah mich mitleidig an und ich hielt einen Moment inne, bevor ich fortfuhr: "...vielleicht bin ich naiv und dumm, aber ich weiß einfach, dass sie noch irgendwo da draußen ist. Ich weiß, dass die lebt und ich muss sie finden."

Er nickte. "Das wirst du auch", meinte er plötzlich, was mir nur einen verwirrten Blick entlockte. "Was macht dich da so sicher?" Marcus zuckte ahnungslos mit den Achseln und ihm huachte in leichtes Lächeln über die Lippen. "Ich weiß es einfach", meinte er überzeugt.

Marcus lehnte sich nach hinten in seinen Sitz und deutete auf das Motel vor uns. "Ich denke dieser Typ taucht heute nicht mehr auf." Leider musste ich ihm recht geben. Wir hockten hier schon seit zwei Stunde  und noch immer war keine Spur von diesem vermeintlichen Spion. "Und was machen wir jetzt?" Er zuckte ahnungslos mit den Achseln.

"Wir sollten uns irgendwo ein Zimmer suchen und unsere Mission morgen fortsetzen."

Deadly MissionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt