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Kapitel Achzehn
» Menschlichkeit «

"Wir hätten besser vorgehen sollen...", murmelte Marcus leise. Er trat die Bettdecke nach unten ans Fußende und breitete die Arme aus. Stur starrte er an die Decke, während er ausgestreckt in der Mitte des Doppelbetts lag wie ein Seestern. Zum ersten Mal in der gesamten Zeit, die ich nun schon hier war, sah etwas in Marcus' Augen, von dem ich glaubte es würde nicht existieren. Emotionen, Besorgnis und sogar einen leichten Hauch von Angst.

Ich lief in dem Motelzimmer auf und ab. Marcus' Sorge war verständlich. Diese Schule war eiskalt und Fehler wurden nicht geduldet. Ich wollte gar nicht erst daran denken, was passiert wäre, wären wir mit leeren Händen wieder nach Hause gekommen. Wir mussten diesen Mistkerl finden. Am besten sofort, doch die Müdigkeit zehrte schon seit Stunden an uns beiden. Aber seit wann hielt uns etwas derart belangloses wie Müdigkeit davon ab unsere Hausaufgaben zu machen?

Master Lin hätte uns höchstwahrscheinlich nur diesen eindringlichen, Angst einflößenden Blick zugeworfen und wir beide hätten sofort gewusst, dass Aufgeben keine Option war. Was war jetzt anders? Wieso wurde ich diesmal nicht von diesem Druck gequält? Dieser Druck, gegen den der Prüfungsstress an einer normalen Schule einpacken konnte. Es war das Gefühl sich zwischen Leben und Tod entscheiden zu müssen, so melodramatisch wie das jetzt auch klingen mag.

An einer normalen Schule schreibt man eine schlechte Note, die man mit einer Prüfung und etwas Arschkriecherei wieder aus der Welt schaffen kann. Auf der Kings Dominion versagt man in der Aufgabe, die einem gegeben wurde und hat keine Ahnung, was für Konsequenzen deswegen auf einen zukommen. Nachsitzen? Auspeitschen? Stundenlang auf spitzen Holzscheiten knien?

Doch diesmal war etwas anders. Und scheinbar dachte Marcus ähnlich, ansonsten wären wir nicht tatenlos hier in diesem Hotel gehockt, während dieser italienische Spion draußen frei herumlief. Auf der Suche nach der Kings Dominion. Die Schule, die niemand finden durfte, der nicht selbst Schüler dort war.

"Warum sitzen wir hier? Wieso sitzen wir hier, rauchen Zigaretten und trinken den billigen Schnaps aus der Minibar? Wieso sind wir nicht da draußen und machen das, was von uns verlangt wird?" Die Fragen sprudelten nur so aus mir heraus. Ich blicktr auf und sah Marcus am Schreibtisch stehen. Er zog sich das schwarze T-Shirt über den Kopf und warf es auf einen der Holzsessel.

Ich schluckte. Zwar versuchte ich, ihn nicht derart auffällig anzustarren, doch es funktionierte nicht. Ehrlich gesagt wusste ich selbst nicht was es war, doch Marcus hatte etwas an sich, das mich magisch anzog. Vielleicht war es dieses breite Grinsen, oder die tiefgrünen Augen. Vielleicht aber auch die Tatsache, dass wir uns ähnlicher waren, als wir dachten. Und das nicht nur, weil wir beide von Master Lin von der Straße aufgesammelt worden waren.

"Wahrscheinlich, weil wir seit einer ganzen Weile mal wieder ohne Beobachtung sind. Kein Master Lin, der jede unserer Bewegungen beobachtet. Wir sind allein hier, hätten sogar die Chance abzuhauen. Möglichkeiten, die wir bisher noch nie hatten." Seine Worte ergaben Sinn, auf irgendeine Art und Weise. Wir saßen hier in diesem Motelzimmer, während Master Lin – mehrere hundert Kilometer entfernt – in seinem Büro hockte und keine Ahnung hatte, wo wir uns aufhielten.

Ansonsten war uns immer einer von Master Lins Laufburschen auf den Fersen, um zu überprüfen, ob alles mit rechten Dingen zuging. Rein theoretisch hätten wir auf der Stelle aufstehen, unsere Sachen packen und uns mit dem geklauten Auto aus dem Staub machen können.

"Davina?"

Erschrocken zuckte ich zusammen und der Geruch von Marcus' Zigaretten holte mich endgültig zurück in die Realität. "Hm?", fragte ich verwirrt. Marcus grinste leicht. "Genießt du die Show?" Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Augen stur auf ihn gerichtet waren, auch als ich in Gedanken versunken war. Peinlich berührt drehte ich mich von ihm weg.

"Schon gut, kein Ding. Es tut gut...mal wieder gesehen zu werden..." Ich setzte mich aufs Bett und warf Marcus einen fragenden Blick zu. Er zuckte mit den Achseln, während er ein paar der kleinen Whiskey-Fläschchen aus der Minibar holte. Ehe ich mir versah waren drei davon leer. Bis auf den letzten Tropfen. "Also Saya scheint dich auch zu sehen", meinte ich schmunzelnd und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Ich konnte Marcus schlucken hören. "Saya ist...kompliziert", murmelte er leise und setzte sich auf den Schreibtisch, der unter seinem Gewicht laut knarzte. Ich grinste nur stumm in mich hinein. "Aber sie ist zur Zeit mein kleinstes Problem..." Ich wurde hellhörig. Marcus' Miene veränderte sich drastisch. Scheinbar ging ihm etwas durch den Kopf, das ihm Sorgen bereitete. "So? Und was ist dein Größtes?"

Marcus sah mich an. Eine einzelne dunkle Locke hing ihm in die Stirn. Er biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Es gibt da einen Jungen..." Meine Augen wurden groß und ich schüttelte ungläubig den Kopf. Marcus sah mich nur verwirrt an, bis er verstand was mir durch den Kopf ging. "Was?! Nein. Nein man, ich bin doch nicht schwul!", protestierte er lauthals.

Obwohl ich auch nicht glaubte, dass er es war, verschaffte mir die Bestätigung seinerseits ein wenig Erleichterung. "Dieser Junge...er hat es auf mich abgesehen. Und das aus gutem Grund. Vor nicht allzu langer Zeit hat er mich gefunden. Einige aus der Kings wollten mir dabei helfen ihn aus dem Weg zu schaffen. Wir hatten alles geplant, sind letztendlich zu ihm nach Hause und direkt in die Falle getappt. Die Situation eskalierte. Ein paar von uns sind dabei fast umgekommen. Irgendwie haben wir es trotzdem geschafft wieder zum normalen Alltag an der Kings zurückzukehren...doch er ist noch immer dort draußen irgendwo."

Ich schluckte nervös. Ehrlich gesagt verschlug es mir für einen Moment sogar die Sprache. Marcus blickte kopfschüttelnd auf den Boden. Man sah ihm an, dass es ihm schwer fiel darüber zu sprechen und deswegen wunderte es mich ein wenig, wieso er genau mir diese Geschichte anvertraute. Wir kannten und kaum. Ich war erst wenige Wochen auf dieser Schule, auf der man angeblich niemandem vertrauen konnte. Nicht einmal den Menschen, die man schon jahrelang kannte.

"Wow...das tut mir lei-"

"Mh mh", unterbrach mich Marcus. "Ich brauche kein Mitleid. Ich brauchte nur...jemanden der zuhört." Er sprang von dem Schreibtisch und kam auf mich zu. Nun hatte er wieder diesen stechenden Ausdruck in den Augen. Kalt. Emotionslos. Er stützte sich mit den Händen auf dem Bett ab und lehnte sich zu mir. "Und solltest du diese Geschichte irgendjemandem erzählen, der nicht selbst dabei gewesen ist, dann zeige ich dir, was ich in meiner Zeit auf der Kings gelernt habe."

Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Gänsehaut legte sich wie ein dünner Stoff auf meiner Haut ab und die Haare in meinem Nacken richteten sich auf. Da war dieses Funkeln in seinen Augen, das mir Angst machte. Es zeigte mir, dass auch er im Ernstfall keine Sekunde zögern würde, mich um die Ecke zu bringen.

Und in diesem Moment wurde es mir klar; Auch Marcus war aus einem bestimmten Grund von Master Lin ausgewählt worden. Auch er war ein Killer, wenn es hart auf hart kam.

Plötzlich wich er einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf und schaute verwirrt auf den Boden. "Tut...tut mir leid, ich wollte...nicht...", stotterte er vor sich hin und fasste sich dabei an die Stirn. Ich atmete tief durch und nickte leicht. "Kein Ding...ich...werde es niemandem erzählen..." Es schien so, als wäre er geschockt gewesen. Geschockt von sich selbst. "Ich weiß nicht...was in mich gefahren ist...ich..."

Er war in einer Art Trance, starrte stur auf einen Punkt hinter mir an der Wand. Schweigend stand ich auf, ging einen Schritt auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. "Schon gut, ehrlich", murmelte ich so leise, sodass ich es beinahe nicht einmal selbst hörte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Marcus die Umarmung erwiderte. Schließlich schloss er mich in die Arme und drückte mich fest an sich, wie ein kleines Kind seinen Teddybär. "Danke", flüsterte er und vergrub sein Gesicht in meinem Nacken.

"Wofür?" Marcus seufzte leise. Langsam löste er sich aus der innigen Umarmung und sah mich an. Seine Augen sahen glasig aus, als wäre er kurz davor eine Träne zu vergießen. "Du...lachst mich nicht aus." Ich runzelte die Stirn. Meine Finger hatte ich in seinem Nacken ineinander verschränkt, während ich ihm tief in die Augen schaute.

"Emotionen, Schuldgefühle und ein schlechtes Gewissen. Diese Dinge machen uns menschlich. Und genau das ist das Problem an dieser Schule. Sie lässt uns glauben, Menschlichkeit sei etwas Schlechtes."

Marcus schwieg. Er musterte mich und kurz darauf schloss er mich wieder in die Arme. Es war dieses Gefühl von Wärme, das ich schon viel zu lange nicht mehr spürte, das in diesem Moment durch meinen Körper strömte.

Deadly MissionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt