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Kapitel Vier
» Vergiss niemals zu Klopfen «

Langsam stieg ich die Wendeltreppe hinab. Ein kühler Luftzug bließ mir entgegen. Ich fröstelte. Ich blickte noch einmal zurück. Master Lin hatte nur an dem glänzenden Löwenkopf neben dem Bücherregal gedreht und plötzlich setzte sich das gesamte Ding in Bewegung. Im ersten Moment war ich erschrocken, doch dann überwiegte die Faszination. Ein geheimer Gang, wie in diesen düsteren Mafia-Filmen. Trotz meiner Faszination war ich etwas skeptisch, als Master Lin auf die dunkle Treppe ins Nichts deutete und mich nach unten schickte. Für alle weiteren Informationen und meine Schulbücher sollte ich die Bibliothek aufsuchen, meinte er, bevor ich in der Dunkelheit verschwand.

Ich kam am Fuße der Stufen an und vor mir lag ein langer Flur. Links und recht hingen alte Laternen an den Wänden, die das düstere Gebäude etwas freundlicher erscheinen ließen. Langsam schlenderte ich durch den Gang, bis ich neben mir plötzlich ein paar Stimmen hören konnte. Erschrocken zuckte ich zusammen und sprang einen Meter zurück. Ich schielte um die Ecke, den Flur hinab, der angeblich zur Bibliothek führen sollte. 'Den ersten Gang links, bis ganz nach hinten.', rief Master Lin mir hinterher, bevor ich ganz in der Finsternis verschwunden war. Und das war der erste Gang auf der linken Seite. Ich konnte ein Mädchen erkennen. Ein schwarzhaariges Mädchen mit einem Rock, der ihr bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte. Drunter trug sie eine dunkle Strumpfhose. Die Emo-Braut. Das muss sie sein. Aber wer ist...

Ich formte meine Augen zu Schlitzen und versuchte den Jungen zu erkennen, mit dem sie sich anscheinend in die Haare bekommen hatte. Er war deutlich größer als sie, trug das selbe Sakko wie sie und dazu eine schwarze Schlaghose. Seine hellbraunen Haare hatte er nach hinten gegelt. Alles in Allem wirkte er wie ein strammer, selbstbewusster junger Mann. Seine Haltung war aufrecht und es wirkte, als wollte er die Emo-Tante einschüchtern. Als wollte er ihr zeigen, dass sie ihm unterlegen war, dass er mehr Macht hatte, als sie. Ich hielt mein linkes Ohr in deren Richtung und versuchte ein Wort ihres Streits zu verstehen. Vergebens. Sie wurden immer energischer und lauter und dennoch konnte ich keine Silbe verstehen. Genervt biss ich mir auf die Lippe. Normalerweise war ich kein neugieriger Mensch, der Gespräche anderer belauschte.

Da ich nicht das Gefühl hatte, als würden die beiden sich bald verziehen, blieb mir nichts anderes übrig als meinen Weg fortzusetzen. Ich klemmte die dunkle Schachtel unter meine linke Achsel und schob die Schultern zurück. Selbstbewusstes Auftreten. Diese Emo-Tante hat mich schon einmal Heulen sehen, das durfte auf keinen Fall ein zweites Mal vorkommen. Ich musste mir hier Respekt verschaffen, wenn ich nicht vorhatte eines Tages mit dem Kopf in der Toilette zu stecken. Mit erhobenem Haupt stakste ich an den beiden vorbei und tat so, als wären sie gar nicht hier. Obwohl es wirklich nicht leicht war, ihr Gebrüll und die Beleidigungen auszublenden, die sie sich gegenseitig an den Kopf warfen.

Ich war schon an ihnen vorbei und dachte ich hätte das Schlimmste überstanden, da hörte ich sie schreien. "Hey! Du!", brüllte die wütende und tiefe Stimme der schwarzhaarigen Emo-Tussi. Ohne vorher darüber nachzudenken rannte ich los. Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte, als würde es um mein Leben gehen. Zwar war ich deutlich im Nachteil, da diese Verrückte das Gebäude mit Sicherheit besser kannte als ich, doch das hielt mich nicht davon ab weiterzulaufen. Ich hörte das laute Donnern ihrer schweren Stiefel auf dem dunklen Holzboden. "Bleib stehen, wir beide sind noch nicht fertig."

Egal wie sehr ich darüber nachdachte, es leuchtete mir einfach nicht ein, wieso sie es derart auf mich abgesehen hatte. Hektisch blickte ich mich um. Petra schien langsamer zu sein als ich, weshalb ich gute Chancen hatte sie abzuhängen. Ich rannte um die Ecke und blieb stehen. Nervös blickte ich mich um. Meine Finger zitterten und der große Kloß in meinem Hals schnürtr mir die Kehle zu. "HEY.", schrie Petra aus dem Flur, aus dem ich gerade gekommen war und ich erstarrte. Verzweifelt stürmte durch die erste Tür, die ich sah und lehnte mich dagegen.

Laut keuchend stützte ich mich auf meinen Oberschenkeln ab. Mein Herz schlug mir beinahe aus der Brust und meine Knie zitterten wie nach einem zehn-Kilometer-Lauf. Ich blickte mich um. Links an der Wand hingen einige Spiegel, einer für jedes Waschbecken. Rechts neben mir befanden sich vollgekritzelte Toiletten-Kabinen Türen.

Dieser Anblick erinnerte mich wieder daran, dass ich hier in einer Schule war und nicht in einer Irrenanstalt. Im Hintergrund hörte ich Wasser laufen und aus dem hinteren Teil des Raumes stieg Wasserdampf in die Luft auf. Der Duft von Haarshampoo und After-Shave kroch mir in die Nase und meine Augen wurden groß.

Oh nein. Das durfte doch nicht wahr sein. In meinem nie enden wollenden Glück hatte ich anscheinend auch noch die Jungs-Toiletten erwischt. Wieso nicht das Büro eines Lehrers? Ich verdrehte die Augen. Wieder nach draußen zu laufen, wo diese psychopathische Melancholikerin nur darauf wartete mich in die Finger zu bekommen, war keine Option.

Das laufende Wasser verstummte und ich schnappte nach Luft. Ich war offensichtlich nicht allein hier. Und bei meinem Glück hatte dieser Jemand in den Duschen einen noch größeren Sprung in der Schüssel, als Petra. Ich hielt den Atem an und blickte in die Richtung, aus der der Wasserdampf kam.

Kurz darauf trat jemand aus dem weißen Nebel. Ich sah genauer hin und meine Augen wurden groß. Diesmal hingen ihm die dunklen und klitschnassen Locken noch weiter in die Stirn. Wassertropfen fielen ihm von den Haarspitzen und tropften auf seine Nase. Sie flossen über seine rötlichen Wangen, über die Kette um seinen Hals, bis nach unten zu seinem Bauchnabel und sie stoppten erst, als sie von dem Stoff des Handtuchs, das um seine Hüfte gebunden war, aufgesogen wurden.

Meine Augen wanderten wieder langsam nach oben und unsere Blicke trafen sich. Jeder Faser in meinem Körer war plötzlich wie eingefroren. Ich schluckte. Der Junge sprang erschrocken einen Meter zurück. "Was zur Hölle hast du hier zu suchen?!", zischte er laut und versuchte vergebens seinen Oberkörper mit den Händen und Armen zu bedecken.

Schnell legte ich den Zeigefinger auf meinen Mund und versuchte ihm klarzumachen, dass er die Klappe halten soll. Mit meinen Lippen formte ich ein lautloses 'Bitte'.  Er zog nur die rechte Augenbraue nach oben und musterte mich skeptisch.

"Dieses Miststück hat sich versteckt.", hallte es auf einmal von draußen und mein Herz rutschte mir in die Hose. Marcus schien meine Verzweiflung erkannt zu haben, denn er winkte mich zu sich. Langsam und so lautlos wie möglich schlich ich auf ihn zu. Sobald ich in seiner Reichweite war, packte er mich am Handgelenk und zog mich hinter die Wand, hinter der er aufgetaucht war.

Ich presste mich nach hinten gegen die klitschnassen Fliesen. Marcus kam einen Schritt auf mich zu. "Halt die Klappe, ja?" Er musterte mich von oben bis unten. Ich atmete so flach wie nur möglich und nickte hektisch. Der Geruch seines After-Shaves stieg mir wieder in die Nase, dieses Mal jedoch um einiges stärker als vorhin.

In dem Moment klopfte es wild gegen die Tür. "Du schuldest mir was.", flüsterte Marcus leise und warf mir einen eindringlichen Blick zu. Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Die Tür flog auf und knallte gegen die Fliesen. Marcus lehnte sich nach vorne und griff nach dem Regler für die Dusche. Instinktiv drückte ich mich noch stärker gegen die Wand hinter mir, als er mir immer näher kam. "Nicht erschrecken.", flüsterte er kaum hörbar und kurz darauf schoss das Wasser aus dem Duschkopf direkt über mir.

"Wo ist sie?", brüllte Petra laut. Ich konnte hören, wie sie jede einzelne Kabine mit dem Fuß aufstieß und leise vor sich hin grummelte. Marcus trat einen Schritt zurück. "Spinnst du? Was platzt du hier einfach rein?", rief er genervt. Die letzte Kabinentür donnerte gegen die Wand und flog durch die Wucht gleich wieder zurück ins Schloss. "Ist sie hier? Sie muss hier sein." Marcus schielte um die Ecke, hinaus zu den Toiletten.

"Weißt du, wenn man ohne zu Klopfen in einen Raum platzt, dann besteht die Möglichkeit Dinge zu sehen, die man nicht unbedingt sehen möchte." Für einen Moment wurde es still. "Du bist doch nicht etwa nackt, oder?" Ich konnte in ihrer Stimme hören, dass sie angewidert das Gesicht verzog und verkniff mir ein leises Kichern. "Nein, natürlich nicht. Man duscht ja bekanntlich immer in Klamotten.", spottete Marcus.

Das lauwarme Wasser prasselte auf mich herab und es fiel mir immer schwerer normal zu atmen. "Widerlich. Sag mir, falls du sie doch noch siehst. Diese neue Tante von vorhin.", knurrte Petra leise. "Mach ich.", versprach Marcus nickend und winkte Petra zum Abschied. Die quietschende Eingangstür fiel ins Schloss. Erleichtert atmete ich auf und schaltete das Wasser ab. Marcus drehte sich zu mir um, grinste verschmitzt und breitete triumphierend die Arme aus.

"Danke", keuchte ich leise.

Deadly MissionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt