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Kapitel Fünfundzwanzig
» Neue Freundschaften «

Seine Worte hallten in meinem Kopf wider, wie das Echo in einer Höhle. Unterschied ich mich, nach dem Vorfall mit dem angeblichen Spitzel, wirklich noch von den anderen, oder war ich nun genauso kaltblütig? Immerhin hatte ich nun schon zwei Menschen das Leben genommen. Warmherzige und gefühlvolle Menschen machen sowas nicht, oder? Ich schluckte schwer und wischte mir die einzelne Träne aus dem Auge. Seit fünf Minuten hing sie mir schon auf der Wasserlinie in den Startlöchern.

"Du irrst dich", murmelte ich in meinen imaginären Bart hinein. Ash neigte den Kopf zur Seite und auf seiner Stirn zeichnete sich eine tiefe Falte ab. Kurz darauf schüttelte er den Kopf. "Das glaube ich nicht." Ich nickte und sah hinaus auf den Horizont. Die Sonne war nun verschwunden und auch der Himmel verdunkelte sich. "Doch. Diese Schule hat mich verändert. Ich bin erst ein knappes Monat hier und schon bin ich zu einem Menschen geworden, der mir nicht gefällt. Jeden Morgen schaue ich in den Spiegel und sehe eine Fremde, verstehst du? Ich erkenne mich selbst nicht wieder."

Ash lehnte sich nach hinten. Er zog die Beine zur Brust. Nachdenklich zerkaute er seine Unterlippe. Für einen kurzen Moment war es totenstill. Plötzlich war der Verkehrslärm verschwunden. Keine aufgebrachten Autofahrer, die wild in die Hupen ihrer Autos donnerten, nicht einmal die Sirene eines Krankenwagens war zu hören. Es war fast so, als wäre die Welt verstummt, um auf Ashs bevorstehende Ansage zu warten.

"Ich kann mir gut vorstellen, dass man sich hier so schnell wie möglich anpassen muss, um nicht eines Morgens mit einem Messer im Rücken aufzuwachen. Dennoch bist du noch lange nicht so wie sie. Tief in dir drin ist noch der Mensch, der du einst warst, da bin ich mir sicher." Er drehte seinen Kopf in meine Richtung und sah mir tief in die Augen.

Sein Blick verunsicherte mich. Ich konnte ihn nicht einschätzen. Waren seine Worte ernst gemeint, oder wollte er mir nur Honig ums Maul schmieren – warum auch immer? "Und warum bist du dir dessen so sicher? Wir kennen uns kaum." Ash huschte ein verschmitztes Grinsen über die Lippen. Er nahm seinen Blick wieder von mir, was mich erleichtert aufatmen ließ.

"Alleine die Tatsache, dass wir beide hier sitzen und uns unterhalten, wie zwei normale Bürger es tun, beweist meine Theorie. Mit niemanden hier kann man sich unterhalten. Entweder man bekommt keine Antwort oder nur einen dummen Kommentar an den Kopf geworfen."

Ash strich sich die schwarzen Haare aus der Stirn. Leider musste ich zugeben, dass er nicht unrecht hatte. Mit den wenigsten hier konnte man ein normales Gespräch führen. Viele waren die meiste Zeit auf irgendwelchen Pillen, um nicht den Verstand zu verlieren. Manche besaßen nicht die nötige Sozialkompetenz, die ein Gespräch verlangte und der Rest hätte mir am liebsten die Kehle aufgeschnitten, anstatt mit mir zu reden.

Bisher hatte ich mich mit niemandem wirklich unterhalten, außer mit Marcus. Und auch der schien seinen eigenen Film zu fahren, seit wir von unserem Trip wieder zurückgekehrt waren.

Ich seufzte leise. "Wieso bist du hier? Du scheinst auch nicht so richtig in diese Truppe zu passen", fragte ich, teils aus Neugier und teils, weil ich diese unangenehme Stille durchbrechen wollte. Obwohl der Verkehrslärm mittlerweile zurückgekehrt war, war es ungewohnt leise hier oben, was mir ein unwohles Gefühl gab.

Ash zuckte planlos mit den Achseln. "Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Master Lin schickte seine Laufburschen zu mir. Sie boten mir einen Platz auf dieser Schule an und ich sagte zu. Woher hätte ich wissen sollen, dass man hier kein Algebra und keine irregulären Verben lernt?", murmelte er leise und blickte hinunter auf seine Füße. Ich lachte leise und erinnerte mich an den Tag zurück, an dem es mir genauso erging. Es war der Tag, an dem ich langsam realisierte, dass an dieser Schule irgendetwas nicht stimmte und mich dazu entschied zu verschwinden.

Gleichzeitig war es auch der Tag, an dem ich beinahe draufging. An dem ich inmitten einer großen Menschenmenge auf dem kalten Pflasterstein lag und mein Leben vor meinem inneren Auge vorbeiziehen sah. Master Lin hatte mir den Arsch gerettet und ich wusste bis heute noch nicht warum. Warum war er so versessen darauf, mich auf seiner Schule zu haben? Was war an mir anders als an Petra oder Viktor?

"Das alles hier...glaubst du man kann sich hier jemals wirklich wohl fühlen?", fragte ich und blickte auf. Ash lachte leise und schüttelte den Kopf. "Das bezweifle ich...", murmelte er und kratzte sich an seinem kantigen Kinn. Daraufhin sprang er von dem Heizungsrohr und warf mir einen fragenden Blick zu. Verwirrt runzelte ich die Stirn. "Was hast du vor?" Er zuckte grinsend mit den Achseln und streckte seine rechte Hand nach mir aus.

Ich erwiderte die Geste und rutschte langsam nach unten, bis ich mit den Füßen auf dem Dach des Gebäudes stand. Ash ging nach vorne, an dem kleinen Kasten vorbei, bis ganz nach hinten zum Abgrund. Nervös schluckte ich und lief ihm hinterher. Er lehnte sich nach vorne und sah über das Dach der Schule hinaus und hinunter auf die Straße.

Die Autos zischten unter uns hin und her. Die Menschen liefen gestresst in alle Richtungen. Wie die Ameisen wuselten sie über die Straßen von San Francisco. Allein beim Zusehen wurde ich hibbelig. Schon als Kind hasste ich Stress und alles, was damit zutun hatte. Immer schon liebte ich die Harmonie und die Ruhe, weshalb diese Schule rein theoretisch überhaupt nichts für mich war. Dennoch saß ich hier, Tag für Tag und fragte mich immer öfter, ob diese ganze Sache wirklich eine gute Entscheidung gewesen ist.

"Morgen haben wir einen freien Tag, oder nicht?", fragte Ash neugierig, während er an der Schwelle zum Abgrund balancierte. Ich konnte ihn zwar akustisch verstehen, doch die Worte kamen nicht an. Viel zu sehr war ich konzentriert auf seine Füße und jede seiner Bewegungen. Das mulmige Gefühl in meiner Magengrube drückte nach oben und für einen Moment wurde mir etwas schummrig. "Kannst du...da bitte runterkommen?", fragte ich unruhig und trat im selben Augenblick einen Schritt zurück.

Ash blickte über seine Schulter nach hinten und grinste leicht. Ich verstand nicht, wie er so lässig auf der Kante stehen konnte, ohne dass ihm schwindelig wurde. Doch es war nicht nur das, er sah um sich, wechselte vom rechten auf den linken Fuß und machte sogar noch eine halbe Drehung. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn schon fallen. "Wieso? Mache ich dich nervös?", entgegnete er, provokant grinsend.

Den Bruchteil einer Sekunde später sah es aus, als würde sein Oberkörper nach hinten kippen. Instinktiv sprang ich nach vorne und packte ihn an der Hand. Mein Puls schoss ins Unermessliche und mein Herz wummerte mir gegen die Brust, als wollte es durch meinen Brustkorb nach draußen springen. Ash hingegen fing an zu lachen. Er sprang von der Kante, ließ meine Hand jedoch nicht los, im Gegenteil, er zog mich ebenfalls nach hinten, weg von der Kante.

"Musste das sein? Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt", keuchte ich, noch immer unter Schock. Ash kicherte noch immer leise und zuckte grinsend mit den Achseln. "Also? Haben wir die nächsten Tage frei, oder nicht?", fragte er erneut. Ich runzelte verwirrt die Stirn. Der Schock saß noch immer tief. Für einen Moment dachte ich, Ash würde fallen. Ich kannte ihn zwar nicht, doch hätte ihm dennoch nur ungern zugesehen, wie er in den Tod stürzt. "Ja, warum?"

Er ließ meine Hand los und lief ein paar Schritte in Richtung der Tür, die ins Treppenhaus führte. "Und hast du schon einen Plan, wie du die freie Zeit nutzen willst?" Verwirrt runzelte ich die Stirn. "Nicht wirklich, wieso fragst du?", fragte ich neugierig und lief ihm hinterher. Ash schüttelte den Kopf. "Ich bin noch nie hier in San Francisco gewesen. Vielleicht könntest du mir die Stadt zeigen? Natürlich nur, wenn du Lust hast."

Ich musste zugeben, dass das Angebot wirklich verlockend klang. Allein der Gedanke daran, einen Tag außerhalb dieses Gebäudes zu verbringen gab mir schon ein Gefühl von Erleichterung und Entspannung. Und nachdem Marcus sich plötzlich auch wieder wie ein Arsch aufführte, blieb mir nichts anderes übrig, als Ashs Angebot anzunehmen.

"Klar, wieso nicht?"

Ein breites Grinsen huschte ihm über die vollen Lippen, bevor er mir den Rücken zukehrte und die Tür zum Treppenhaus mit aller Kraft zu sich zog. Dahinter sah ich nichts, außer den Umriss der Treppe. Durch die Helligkeit hier draußen wirkte das Treppenhaus wie ein schwarzes Loch, das nur darauf wartete, uns in sich zu verschlingen. Ich schluckte, ließ mir aber nichts anmerken und folgte Ash nach unten zu unseren Schlafräumen.

Deadly MissionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt