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Kapitel Vierundzwanzig
» Zufluchtsort «

"Wie ich sehe haben viele ihre Hausaufgaben erledigt. Und das in so kurzer Zeit. Ihr seid auf einem guten Weg, Gratulation."

Mr Hanson lief im Raum auf und ab, was mich auf irgendeine Art und Weise nervös machte. Er fuchtelte mit seinem langen Holzstab hin und her. Sein Blick schweifte durch den gesamten Raum, als hätte er Angst gehabt es könnte jemand hier sein, der nicht hier sein sollte. Entweder wusste er mehr als wir, oder die Paranoia hatte ihn eingeholt.

Plötzlich kam er auf mich zu und blieb direkt vor meinem Tisch stehen. Er blickte auf mich herab. "Wie sieht es denn bei euch aus?", fragte er neugierig. Hanson musterte zuerst Marcus, der an dem Tisch hinter mir saß, und danach fiel Hansons Blick auf mich. Marcus kramte sein Telefon aus seiner hinteren Hosentasche. Doch Hanson schien ihn zu ignorieren. Er war nur auf mich fixiert. "Ist die Aufgabe erledigt worden?" Sein stechender Blick jagte mir einen kalten Schauer den Rücken hinunter.

Ich nickte schweigend. Unsicher verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah ihm absichtlich nicht in die Augen. Ich schämte mich dafür, obwohl es unsere Aufgabe gewesen war. Ich hatte einem Menschen, der mir vollkommen fremd gewesen war, das Leben genommen. Zwar habe ich damit Marcus den Arsch gerettet, aber dennoch hätte ich diesen Mann auch nur temporär außer Gefecht setzen können, ohne gleich sein Herz zum Stillstand zu bringen.

Andauernd flackerten diese schrecklichen Bilder vor meinem inneren Auge auf. Das ganze Blut, der schwarze Müllsack und die Waffe auf dem Boden. Meine Finger fingen an zu zittern. Ich erinnerte mich wieder genau an den Moment, in dem der Mann in sich zusammensackte und reglos auf dem dunklen Holzboden liegen blieb.

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter. Mr Hanson stand noch immer vor meinem Tisch. Nun hatte auch er die Arme vor der Brust verschränkt. "Tut mir leid, ich konnte Sie nicht hören." Gerade, als ich den Mund aufmachen und etwas antworten wollte, klinkte Marcus sich ein. "Ja, haben wir. Davina hat ihren Job wirklich ausgezeichnet gemacht. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft."

Langsam drehte ich meinen Kopf zur Seite und schielte zu ihm nach hinten. Dankend nickte ich ihm zu. Marcus wusste genau, dass mir diese Sache ziemlich nahe ging und es mir schwer fiel, nicht den Verstand zu verlieren.

Obwohl ich auf diesem Trip das Gefühl hatte, Dinge über Marcus erfahren zu haben, die sonst nur wenige wussten, kamen nun wieder erste Zweifel auf. Er verhielt sich auf einmal wieder etwas distanzierter, redete nur mit mir, wenn er musste und hielt sich sonst eher im Hintergrund. Vielleicht war es aber auch nur zu seinem eigenen Schutz. Hier auf der Kings Dominion gab es wenige, bis gar keine engen Freundschaften, oder innige Beziehungen.

Dennoch gingen merkwürdige Schwingungen von Marcus aus.

Plötzlich riss mich das Klingeln der Schulglocke aus meinen Gedanken. Erschrocken fuhr ich umher. Ist die Stunde schon vorbei? Die Leute um mich herum standen auf, schnappten sich ihre Sachen und liefen hektisch aus dem Raum. Scheinbar. Ich tat es ihnen gleich, da ich es vermeiden wollte, im Hanson allein im Klassenzimmer zu bleiben. Er hätte mich bestimmt noch auf diese Aufgabe angesprochen und unnötige Fragen darüber gestellt.

Für manche hier mag es vielleicht nur eine Hausaufgabe gewesen sein, aber für mich war es DIE Aufgabe. Jene Aufgabe, die Marcus fast das Leben und mir meinen Verstand und meinen letzten Rest Menschlichkeit gekostet hat. Nun war ich offiziell eine von ihnen. Kalt, skrupellos. Eine Mörderin.

Ich hastete mit meinem offenen Rucksack und meinen Stiften in der Hand aus dem Raum. Draußen auf dem Flur blieb ich kurz stehen, um das ganze Zeug in meinen Rucksack zu stopfen. Daraufhin setzte ich meinen Weg ins Schlafzimmer dort. Dort blieb ich jedoch nicht allzu lang. Ich legte lediglich meine Schulsachen und den Rucksack ab, bevor ich mich wieder nach draußen schlich.

Unauffällig tapste ich durch die Gänge, sah mich alle paar Sekunden paranoid um. Ich wollte nicht gesehen werden. Von niemandem. Schnell hastete ich durch die Flure der Kings, bis zu der einzigen Tür, die nicht ins Bild passte. Sie war nicht aus dunklem Holz, wie die anderen. Sie war schneeweiß und aus dickem Eisen, als wollte sie etwas Wichtiges beschützen. Dahinter befand sich jedoch kein wertvoller Schatz, sondern nur ein altes, muffiges Treppenhaus.

Ich öffnete die quietschende Tür so vorsichtig wie möglich. Schnell huschte ich in die Dunkelheit hinter ihr. In dem Glauben, dass mich niemand gesehen hätte lief ich bis nach oben in den vierten Stock. Von dort aus kletterte ich über eine rostige Leiter nach oben aufs Dach. Die warmen Sonnenstrahlen fielen mir ins Gesicht und ein leichter Föhn blies mir durch die Haare. Erleichtert atmete ich auf.

Der Platz am Dach war der einzige Ort in diesem Gebäude, an dem ich allein sein konnte. Ein Ort, an dem ich für wenige Stunden das Gefühl hatte, das Leben eines stinknormalen Teenagers zu leben. Für kurze Zeit konnte ich den absurden Mist, den ich jeden Tag erlebte ausblenden.

Erschöpft kletterte ich auf eines der großen Rohre und kramte eine zerquetschte Packung Zigaretten aus meiner Jackentasche. Ich beobachtete die Autos, die unter mir auf der Straße in alle Richtungen zischten. Wohin sie wohl fahren? Nachdenklich zündete ich mir eine der Zigaretten an. Mein Blick fiel auf eine dunkelhaarige Frau. Sie trug eine große Tasche auf der Schulter. Für einen Moment glaubte ich das Klappern ihrer hohen Hacken hören zu können – relativ unwahrscheinlich, sofern ich nicht das Gehör eines Luchses hatte.

Plötzlich hörte ich die Klappe des Stiegenhauses knarzen. Erschrocken fuhr ich umher. Mir fiel beinahe meine Zigarettenschachtel aus der Hand. Die Klappe öffnete sich und ein Kopf mit schwarzen Haaren kam zum Vorschein. Es war der neue Junge, den ich vor der Reise zum Arsch der Welt getroffen hatte. Wie war noch gleich sein Name? Alex? Ash? Ash, das muss sein Name sein. Ganz sicher.

Er kletterte aufs Dach und sah sofort zu mir auf, als hätte er gewusst, dass ich hier oben hockte. "Was suchst du denn hier?", fragte er verwirrt und ich runzelte nur die Stirn. Es sah nicht so aus, als wäre er zufällig hier.

"Lustig, die Frage wollte ich dir auch gerade stellen." Er kam ein paar Schritte auf mich zu. Ash zuckte mit den Achseln und musterte mich nachdenklich. "Ich brauchte einfach eine kurze Pause...von allem. Sich hier einzuleben ist wirklich schwerer als ich dachte." Ich nickte leicht. Ich sollte mit diesem Pessimismus aufhören. Ash ist neu und hat eine Chance verdient.

Ash kam auf mich zu, kletterte ebenfalls auf das große Rohr der Heizung und setzte sich neben mich. "Hast du noch Eine übrig?", fragte er und deutete auf die eingedellte Zigarettenschachtel. Ich hätte sie vielleicht nicht in meine Hosentasche stecken und mich draufsetzen sollen. Nickend hielt ich sie ihm vor die Nase. "Bedien' dich", entgegnete ich mit einem leichten Lächeln, das ich mir selbst auf die Lippen gezwungen hatte.

Dankend nahm er sich eine Zigarette, klemmte sie sich zwischen die Lippen und kramte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Das Ende der Kippe begann zu Glühen. Ash nahm einen Zug und lehnte sich nach hinten. Nachdenklich blickte er in den Himmel. Seine scharfen Wangenknochen kamen nun noch mehr zur Geltung. Die schwarzen, leicht gewellten Haare wuchsen ihm schon in den Nacken, dennoch sah seine Frisur gewollt und gepflegt aus.

"Und, wie gefällt es dir hier?", fragte ich, bevor eine unangenehme Stille den Platz zwischen uns füllen konnte. Ash zuckte nachdenklich mit den Achseln. Er nahm noch einen langen Zug der Zigarette. Der Rauch stieg in die Luft auf, wo ihn der Wind schon nach wenigen Sekunden davontrug. "Schwer zu sagen. Es ist natürlich sehr...speziell. Ungewohnt und auch irgendwie beängstigend. Diese Petra hat definitiv nicht alle Latten am Zaun und Viktor denkt er würde der nächste Präsident werden."

Ich musste schmunzeln. Er hatte recht. Auch mir waren die beiden schon am ersten Tag aufgefallen. Vor allem Petra, deren eiskalte Klinge ich schon an meinem Hals spüren durfte. "Und du? Wie gefällt es dir? Du bist doch auch noch nicht allzu lange hier, oder?" Ash drehte seinen Kopf in meine Richtung. Seine eisblauen Augen – die durch seine dunklen, fast schon schwarzen, Haare noch mehr zur Geltung kamen – bohrten sich durch mich hindurch. "Wie du schon sagtest; Es ist hier sehr speziell. Die Leute sind teilweise wirklich unheimlich und man darf nur noch mit einem offenen Auge schlafen, sofern man sich sicher fühlen will."

Ash lachte leicht, pustete den Rauch in die Luft und beugte sich nach vorne. Er blickte nach unten auf seine Schuhe. "Warum bist du hier? Du bist nicht wie die anderen, wie ich mitbekommen habe."

Deadly MissionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt