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Kapitel Dreiundzwanzig
» Schmetterlinge «

Leere herrschte in mir. Ich fühlte rein gar nichts mehr, als hätte jemand einen Schalter in meinem Hirn umgelegt. Gleichgültigkeit hatte den Platz von Verzweiflung und Trauer eingenommen. Ich fühlte mich sogar irgendwie befreit. Die Wolken, die durch meinen Kopf zogen benebelten meine Gedanken und bremsten diese etwas aus, sodass ich wenigstens temporär etwas Ruhe vor dem Chaos in meinem Kopf hatte.

"Das nennst du also frische Luft schnappen?", fragte ich Marcus schmunzelnd und hielt ihm die Tüte vor die Nase. Das glühende Ende näherte sich Marcus' Mund. Er nahm einen langen, tiefen Zug. Als er den Rauch wieder aus seinem Körper ließ, lehnte er sich zurück, gegen die Windschutzscheibe des Wagens und atmete erleichtert auf. "Es eine Möglichkeit seine Gedanken abzuschalten und ich dachte mir, dass du das jetzt brauchen könntest."

Er grinste leicht, blickte hinauf zum Sternenhimmel. "Was ist eigentlich dein Grund, also wieso du auf der Straße gelebt hast?", fragte Marcus neugierig, drehte den Kopf in meine Richtung. Ich lehnte mich ebenfalls nach hinten, winkelte die Beine an und stellte auf der Motorhaube ab. "Nachdem meine kleine Schwester verschwunden ist...ich rede nicht gern darüber..." Marcus schüttelte beschwichtigend den Kopf und machte eine abweisende Bewegung mit der rechten Hand. "Du musst nicht, wenn du nicht willst."

Ich nickte. "Vielleicht hilft es ja sogar darüber zu reden...also nachdem sie verschwunden ist, bin ich abgestürzt. So richtig. Ich habe täglich zwei, oder drei Flaschen Wein gekillt, bin jedes Wochenende in den Club, um mich mit meinen Freundinnen abzuschießen. Wir haben uns alles reingezogen, was es hier in der Stadt auf dem Markt gibt. Irgendwann kam ich zu dem Punkt, dass ich mich nur noch gut fühlte, wenn ich drauf war. Egal auf was. Es war ein tag täglicher Tanz mit dem Teufel und ich konnte ihm nicht entkommen."

Marcus sah mich wieder an. Er schwieg. Ich schwieg. Diese Stille umhüllte uns wie ein dicker Mantel, doch sie fühlte sich keineswegs unangenehm an. An Marcus' Blick erkannte ich sofort, dass er mich verstehen konnte. Dass er genau wusste, wovon ich redete, als hätte er es selbst durchlebt. Ich schluckte. "Das klingt heftig...das tut mir leid...", meinte er nachdenklich und nahm noch einen Zug.

"Dann bin ich an deinem Rückfall schuld, wie es aussieht..." Er schaute hinab auf den Joint zwischen seinen Fingern und ich musste leise lachen. "Ich bin auf einer Schule voll mit Mördern und Psychopathen, ich glaube Drogen sind zur Zeit mein kleinstes Problem", entgegnete ich.

In der Ferne hörte man auf einmal einen Uhu schreien. Ich blickte hinaus auf das große Feld und seufzte leise. "Ich...ich glaube..." Marcus schaute zu mir und wartete darauf, dass ich meinen Satz zu Ende bringe. "...ich schaffe das alles nicht mehr lang. Diese Schule...ich habe das Gefühl, dass ich mich in diese Welt niemals einfügen kann." Er gab mir die Tüte und ich nahm einen langen Zug.

Ich konnte fühlen, wie der Rauch meine Lungen befüllte. In meinem Rachen hatte ich diesen herben und doch süßlichen Geruch, der in meinen Augen der Himmel auf Erden war. Es war Erleichterung, die sich in mir ausbreitete. Von den Haarwurzeln bos zu den Zehen. "Du bist jetzt doch schon eine ganze Weile hier, willst du wirklich mittendrin aufgeben? Wieder zurück auf die Straße?", fragte Marcus mit diesem unterschwellig vorwurfsvollen Ton.

Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle. Ich schüttelte zögerlich den Kopf und verschränkte die Arme eng vor meiner Brust. "Es ist nur...ich kann schon fast fühlen, wie es in mir drin anfängt zu bröckeln. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis mein Inneres gänzlich daran zerbricht." Marcus nickte verständnisvoll und rutschte ein kleines Stück auf mich zu. "Darf ich dir etwas anvertrauen?"

Meine Augen wurden groß und unter meiner ersten Hautschicht fing es an zu kribbeln. Solche Fragen hatten mich schon immer nervös gemacht. Man weiß nie, was gleich kommen würde. "Natürlich...", murmelte ich unsicher und rechnete schon mit dem Schlimmsten.

Marcus sprang von der Motorhaube, warf den Stummel des Joints auf den Boden und trat energisch drauf. Er bewegte seinen Fuß hin und her, rieb den Stummel damit in den Schotterboden, bis er sich sicher sein konnte, dass die Glut nicht mehr zurückkommt. Kurz darauf kletterte er wieder auf die Motorhaube des Wagens und setzte sich neben mich.

"Vor kurzer Zeit gab es noch einen Lehrer auf der Kings, mit dem ich einmal ein merkwürdiges Gespräch hatte..." Er hielt inne und ich wollte ihm dafür ins Gesicht schlagen. Er konnte doch nach so einer Ansage keinen Cliffhanger einbauen. "...er meinte, dass es in den letzten Jahren keine einzige Ratte gab, die den Abschluss auf der Kings geschafft hat." Meine Augen wurden immer größer.

Insgeheim wusste ich, auf was Marcus hinauswollte, doch ich verdrängte diesen Gedanken. Ich wollte es nicht wahr haben. Ich wollte nicht, dass die einzige Chance, mein Leben wieder halbwegs auf die Reihe zu bekommen sich in Luft auflöst.

"Und das heißt?" Marcus seufzte leise und lehnte sich nach hinten. "Ich...ich bin mir nicht hundertprotzentig sicher...aber dieser Lehrer meinte zu mir ich solle abhauen, sobald ich genug gelernt habe, um selbst klarzukommen. Vielleicht überleben wir nicht bis zum letzten Schultag, vielleicht sorgt man aber auch dafür, dass wir uns aus dem Staub machen. Ich weiß es nicht..."

Ich musste schlucken. Die einzige Hoffnung, die ich in letzter Zeit hatte, verpuffte von einer Sekunde auf die andere. "Das...das...ernsthaft?", fragte ich Marcus ungläubig und schüttelte den Kopf. Er nickte flüchtig. "Wieso sagst du mir das genau jetzt?", fragte ich verwirrt. Wieder einmal schwirrten mir tausende Gedanken zur selben Zeit durch den Kopf und ich konnte sie nicht abstellen. Tausende leise Stimmen quasselten auf einmal auf mich ein.

Marcus schnaufte und holte Luft. Er richtete sich auf, lehnte sich nach vorn auf seine Knie und schaute mir tief in die Augen. Sein Verhalten machte mich irgendwie nervös. Ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Diese Pause fühlte sich unendlich lang an. Es kam mir vor, als hätten wir uns stundenlang gegenseitig angeschwiegen, obwohl es nicht einmal fünf Minuten waren.

"Lass uns abhauen."

Ich schnappte nach Luft, verschluckte mich beinahe an meiner eigenen Spucke. Es brauchte eine Weile, bis ich diese Worte wirklich verstanden hatte. "Abhauen? Jetzt?", fragte ich konfus und runzelte die Stirn. Marcus schüttelte sofort den Kopf. Er schaute hinaus auf das dunkle Feld und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. "Nicht jetzt. Vor unserem Abschluss, bevor wir...keine Ahnung, bevor wir abkratzen, oder wieder zurück auf die Straße geekelt werden."

Leider Gottes musste ich zugeben, dass Marcus' Plan gar nicht so absurd klang, wie ich im ersten Moment dachte. Ich schaute hinunter auf meine staubigen Schuhe. "Fuck, ja. Lass uns abhauen", rutschte mir über die Lippen und Marcus schaute überrascht auf. Ich sah ihn an. "Im Ernst?" Es sah fast so aus, als hätte er mit Vielem gerechnet, aber nicht mit dieser Antwort. Mit einem Nicken stimmte ich ihm zu. Seine Augen wurden groß. Sie funkelten, sogar hier im Dunkeln.

"Ganz sicher?", fragte Marcus noch einmal, um wirklich sicherzugehen. "Ja, Marcus. Ganz sicher", antwortete ich und schaute ihm dabei tief in die Augen, um so überzeugend wie möglich zu klingen. Ein breites Lächeln huschte ihm übers Gesicht, bevor er mich in seine Arme schloss. Ich rutschte ein Stück in seine Richtung und vergrub mein Gesicht in seinem Nacken. Beinahe stiegen mir die Tränen in die Augen, doch ich konnte sie gerade noch unterdrücken.

Wir lösten uns voneinander und er sah mich an. "Du bist unglaublich, weißt du das?", flüsterte er kaum hörbar. Ich musste schlucken. Ein Kribbeln breitete sich in meiner Bauchregion aus und ich schüttelte den Kopf. Nein, Davina. Hör auf damit. Schmetterlinge im Bauch konnte ich mir nicht leisten. Die letzten Male ging das alles andere als gut aus.

"Komm, wir machen uns auf den Weg zurück, bevor wir Ärger bekommen", meinte Marcus und sprang von der Motorhaube des geliehenen Wagens. Ich tat es ihm gleich. Wir stiegen wieder ins Auto. "Wo hast du überhaupt Fahren gelernt?", fragte ich ihn neugierig. Er zuckte mit den Achseln. "In der Not wird man erfinderisch." Er lachte leicht und startete den Motor des Autos.

"Kann ich dich etwas fragen?" Ich nickte. "Schieß' los." Marcus fuhr los, hinaus auf den menschenleeren Highway. "Wie ist das? Das Leben als Teenager in einer normalen Familie? High School, Freunde, Partys und so weiter..."

Ich seufzte leise und lehnte mich nach hinten in den Sitz. "Besser als die Straße, aber nicht so toll, wie man es sich vorstellt. Man wird für jeden Scheiß verurteilt. Mädchen in diesem Alter sind ziemliche Bitches und Lehrer versuchen dir das Leben zur Hölle zu machen."

Deadly MissionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt